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<p>mächtigsten Gottheit, um deren Gunst Himmlische wie Irdische buhlten. Wer des Bacchus und der Venus holde Gaben nicht begehrt, wen nicht die Weisheit der Athene lockt noch Dianens fröhliches Weidwerk - der Gunst der Göttin des Glücks kann keiner entraten, der auf Erden wandelt. Darum brachten nicht der strengen Vesta noch der lieblichen Aphrodite die edlen Jungfrauen Roms ihr Kinderspielzeug opfernd dar, wenn sie dem Gatten in sein Haus folgten. Der großen Fortuna von Praeneste setzten sie auf den Altar die rührend ungeschickt geformten Kühe und Schafe und Puppen aus Ton und Holz, ihrer Kindheit köstlichsten Schatz, auf daß die Machtfülle Glück ausgieße über die werdende Familie.<lb/>In weiten Hallen, von schlanken Säulen getragen, hob sich einst der gigantische Bau, gebietend, herrschend wie die Gottheit, zu deren Ehren er aufstieg. Über den schmalen Landstreifen hinweg leuchtete sein weißer Marmor bis weit hinaus ins Meer, auf daß der aus dem Hafen fahrende Schiffer fromme Bitte hinaufsende zur launenvollen Glücksgöttin und der heimkehrende Dank und Gelöbnis ihr darbringe, wenn durch sternlose Nacht und über windgepeitschte Wogen das Leuchtfeuer hoch vom Tempel von Praeneste ihm die sichere Einfahrt in den Hafen wies.<lb/>Von Sonnenaufgang, aus dem Land der Griechen, war der Dienst der Fortuna herübergekommen. Viel-<lb/>leicht kam er noch weiter her. Vielleicht war seine Heimat das alte Ägypten mit seinen verschwiegenen Tempeln, seinen in geheimster Weisheit tief erfahrenen Priestern. Auch über die Mosaikböden von Praeneste schritt ein zahlreiches Priestervolk. Aus allen Himmelsgegenden des weiten römischen Reiches kamen bange Seelen, die einen Richtzeig begehrten auf ihrer Jagd nach dem Glück. Die Priester befragten die Gottheit und gaben Orakelsprüche. Sie führten wohl auch solche, die einen Zipfel des Schleiers gelüftet sehen wollten, der ihrer Zukunft Bild verhüllte, in den stillen, kühlen Vorhof des Allerheiligsten, ließen sie dort im sinkenden Abend allein in dem dichten Wald gleißender weißer Säulen, über die gespenstisch ihr eigener Schatten glitt, wo vom steinernen Boden wunderbare Mosaiken zu ihnen aufdrohten, Riesenkrebse, Nilpferde, Elefanten, Schiffe mit windgeblähten Segeln, schöne, nackte Menschen auf seligen Inseln. Kein Laut drang hier herein, keines Menschen Stimme. Fernher, wie ein Silberstreif leuchtete das Meer. Zwischen den Säulen hindurch schauten die Sterne streng und flammend wie Götteraugen herab. Und in dem großen Schweigen war der Mensch allein mit seiner Seele und der Schicksalslenkerin.<lb/>Man sagt, daß in der Stille der Nacht Fortuna aus dem Heiligtum trat und die Stirn des in Schlaf Gesunkenen berührte. Im Schlaf gab sie denen, die sie erhören wollte, Antwort. Aber sie gab sie in der Sprache der Götter, die Ohren und Hirn gewöhnlicher Menschen nicht fassen. Der Priester, der sich auf Götterwort besser versteht, unternahm am Morgen die Deutung des heiligen Traumbildes. Aber auch der Priester bleibt Mensch. Nicht immer, behauptet die Sage, habe er der Göttin wahrhaftige Antwort richtig übertragen.<lb/>Jetzt sind Säulen und Hallen gesunken. Auf ge-<lb/>borstenen Zyklopenmauern sitzen Hirten und weiden im spärlichen Graswuchs des Berghangs die Herden. Die Riesenterrassen hinauf kriechen enge, gewundenen Gäßchen, wo in höhlenartig düsteren Häusern ein Geschlecht von Wein- und Ackerbauern haust. Aber unter der dichten Kruste von Vergessenheit, die manch jüngeres Begebnis überdeckt, ist in der Volksseele nie ganz die Erinnerung erstorben an Fortuna und ihr Heiligtum. Sinnige Erzähler pflanzten von Geschlecht zu Geschlecht die Legende. Knechte, die den Schutt umschaufelten, um der Fürsten Gärten zu bepflanzen, gruben wunderbare Marmorleiber aus dem Erdschoß, rätselhaftes Gerät. Und mitten im Flecken, nicht weit von der hochragenden Kirche der Gottesmutter und umschlossen von den Mauern eines Seminars, in dem fromme Jünglinge zu Christenpriestern erzogen werden, leuchten noch heut in unvergänglichen Farben auf zerbröckelndem Boden die Mosaiken von Riesenkrebsen, Elefanten, Nilpferden, Schiffen mit windgeblähten Segeln, schönen Leibern nackter Menschen auf seligen Inseln, auf denen einst die Schläfer lagen im heiligen prophetischen Schlaf, - klaffen hinter wucherndem Kraut die heimlichen Gänge, durch die der Priester wandelte, ungesehen vom Auge des Laien, ragen die weißen Stümpfe der zerbrochenen Säulen aus dem Vorhof des Allerheiligsten der Fortuna. Scharen von Katzen bevölkern die Trümmer, Nachkommen jener heiligen Katzen, die um die Füße der weißgekleideten Priester strichen in Fortunas Tempel. Furchtlos und würdevoll sitzen sie auf den Säulenstümpfen, in ihren großen Sternenaugen ein seltsames Licht tragend, wie geheimnisvolle Erinnerung an das Land ihrer Vorfahren, das Land, das ihre Mumien als Heiligtümer verehrte, in dessen Tempelhöfen in langen Reihen ihre Riesenabbilder, die rätselhaften Sphinxe, wachthaltend lagen.<lb/>Stärker begann in den letzten Jahren der Strom der Erinnerungen zu fließen. Fremde Menschen mit blondem Haar, die des Landes Sprache nur gebrochen sprachen, zogen durch den weltabgelegenen Ort, fragten und forschten, nicht nach der neuen Kirche der Madonna, auch nicht nach den Trümmern der Burg auf des Berges Scheitel, in der einst der deutsche Kaisersohn gefangen saß, ehe sein junges Haupt auf dem Marktplatz in Neapel viel. Sie fragten nach Fortunas Tempel, nach den Splittern und Scherben weißer Marmorfrauen, die aus dem Schutt ausgegraben wurden. Mit rotem Gold bezahlten sie die. Aber der Bürgermeister verkauft sie längst nicht mehr. Er weiß, dass diese Scherben die Fremden nach Palestrina ziehen, die Inglesi und Tedeschi, denen das Gold locker in den Taschen sitzt, die beim Wirt den Landwein trinken und beim Krämer die Ansichten von Palestrina kaufen, die den Bambini Soldi in die kleinen Hände stecken, von denen Francesco Peroni mit seiner Tochter lebt. Francesco, das war einer, der erzählen konnte von den alten Zeiten. Er hatte es vom Vater und Großvater gelernt. Als die vielen Blondköpfe kamen, buchstabierte er sich durch alte Chroniken. Und was die Bücher ihm nicht verrieten, das erfuhr er von den wunderlichen Fremden selbst, die er in Palestrina herumführte und von denen einige mehr von den alten Dingen wußten, als die Leute von Praeneste. Wunderbar wußte Francesco zu erzählen. Manche kamen von Rom, nur um ihn zu hören.<lb/>Jetzt saß er auf der rebenumsponnenen Terrasse der Trattoria dem Engländer gegenüber, der schon seit Tagen in Palestrinas krummen Gassen herumstelzte. Er hatte erklären müssen, daß ihm die Zunge am Gaumen klebte. Dafür labte der Fremde ihn nun mit Landwein. Er selbst trank kaum. Gedankenvoll blinzelte er mit seinen hellen, scharfen Augen in das<lb/>sonnenbeschienene Land, das zwischen dem noch jungen Weinlaub flimmerte. Plötzlich streckte er seine langen Beine weit über die Steinplatten und sagte langsam: »Der Candlestick, Francesco, der Armleuchter von Marmor, der drüben in der Kirche steht, der war smart — außerordentlich smart. O yes.«<lb/>Francesco nickte. »Der Candelabro? Ja, Signor, ein schönes Stück. Er hat im Heidentempel zu Babylon gestanden, ich sagte es schon. Zu König Nebukadnezars Zeit kam er nach Jerusalem, von dort in den Tempel der Fortuna nach Praeneste. Ist ein weiter Weg, und es gab nicht Eisenbahnen noch Dampfschiffe. Aber die Dinge mögen einander noch so fern sein, das Glück bringt sie zusammen, heut und damals.«<lb/>»Ist er zu kaufen, der Candelabro?« fragte der Engländer.<lb/>»Nein, Signor, für kein Geld.«<lb/>»Wenn man den Bürgermeister fragte? Palestrina ist kein reicher Ort, wie es scheint. Und es gibt in mein Land Menschen, die würden bezahlen den Candlestick mit so viel money, daß alle in Palestrina könnten haben eigene Häuser.«<lb/>»Er ist nicht zu kaufen, Signor verstehen. Es ist verboten. Die Regierung läßt es nicht zu, der König, Signor.«<lb/>Des Engländers Blicke glitten über Francesco weg und hafteten an zwei Burschen, die nacheinander auf die Terrasse traten, die Hüte abnehmend und den Schweiß von den Stirnen trocknend. Der zuerst eintrat, glich einer der Bronzefiguren im Museum zu Neapel, schlank, sehnig, mit einem Gesicht voll sorgloser Lebensfreude, sonnigen Leichtsinns. Ruhig, würdig waren seine Bewegungen, von der Sicherheit derer, die sich überall willkommen wissen. Der ihm folgte, war größer und von knochigerem Wuchs. Tiefschwarzes Haar fiel ihm als dicker Schopf bis zu den Augen, in<lb/>denen ein verhaltener Grimm zu lauern schien, vielleicht auch nur ein Schmerz, eine Sehnsucht, die nie Erfüllung gefunden hatte. Als er den ersten gewahrte, der langsam, behaglich sich an einem Tisch an der Brüstung niederließ, verfinsterte sich sein Antlitz, eine senkrechte Falte grub sich in seine beulige Stirn. Er drehte sich auf dem Absatz um, und mit unwirschem Gemurmel die Wirtstochter abfertigend, die nach seinem Begehr fragte, rannte er an dem lachenden Mädchen vorüber hinaus.<lb/>»Was ist das für ein kurioses Mensch, Francesco?«<lb/>»Es ist Luigi Vanutelli, der Eseltreiber, Signor. Und der andere ist Antonio Cavaliero, auch ein Eseltreiber. Und der eine ist wie ein Regentag im Winter und der andere wie ein Sonnenmorgen im Frühling.«<lb/>»Warum?«<lb/>»Wer kann das sagen, Signor? Der Prete behauptet, daß die Heiligen allen Menschen ihr Los messen nach der Gerechtigkeit Gottes. Es fällt aber, mit permesso zu sagen, heut noch gerade so ungleich, wie da die Heiden im Tempel hier um Glück zur Göttin Fortuna beteten. Der Luigi Vanutelli haust mit seiner Ziehmutter, der Concetta Nona. Er soll das Kind eines Principe sein, der, als er in Neapel ins Schiff stieg, um auszuwandern, seinen Sohn mit einer kleinen Geldsumme der Concetta gegeben hat. Die Leute erzählen so und Concetta selbst. Ist ihm aber nichts geraten im Leben. Schlecht und recht schlägt er sich durch mit seinen Eseln. Mit zwanzig hat er angefangen. Nun sind es noch zehn. Er gewinnt nicht im Lotto. Die Augen der Dirnen sehen an ihm vorüber, und wenn er mit den Burschen rauft, kriegt er die Messerstiche. Erst neulich hat er sechs Wochen im Spital gelegen. Und da ist der Antonio Cavaliero, der Braune, dem eben Signorina Lucia sein Pranzo bringt. Ist ein Waisenbub, auf dem Straßenpflaster von Palestrina<lb/>groß geworden. Ebbene, dem geht‘s wie im Paradiso. Ist keiner, der die Soldi zusammenhält, der Antonio, fehlt ihm doch nie daran. Setzt er im Lotto. so gewinnt er. Sieht er ein Mädel an, schickt sie ihm Liebesbotschaft. Ja, das Übel noch wird ihm zum Guten. Mußt‘ er nicht Soldat werden? Und gar in Messina wurd‘ er einkaserniert. Kam das Terremoto, das große Erdbeben. Alle auf seiner Kammer, alle Soldaten auf seinem Flügel sind erschlagen worden, erstickt von den fallenden Mauern. Der Antonio ist heil davongekommen. Grad so viel hat‘s ihn getroffen am Bein, daß sie ihn für immer frei lassen mußten von den Soldaten. Kommt er zurück nach Palestrina — Signor, der verlorene Sohn ist nicht besser empfangen worden. Und gleich fängt er eine Maultierpost an, und sie gedeiht ihm. Der Luigi geht an ihm zugrund. Er ist nicht schlechter, Signor, der Luigi. Aber er geht an dem Antonio zugrund.«<lb/>Antonio hatte sich über die Makkaroni und die Frutti di Mare hergemacht, die Lucia vor ihm auf den Tisch stellte. Er aß ohne Halt. Auf lautlosen Sohlen wandelte die Mauerbrüstung entlang ein riesiger schwarzer Kater zu ihm hin und rieb sich mit hohem Buckel an seiner Schulter. Gleichzeitig strich zur Tür herein eine graue Mieze, von drei Jungen gefolgt. Ein schneeweißes Kätzchen setzte sich anmutig auf die Bank, neben Antonio. Der lachte, daß all seine weißen Zähne blitzten, grub seine Finger in die weichen Felle und fütterte die Bettelnden von seinem Mahl.<lb/>»Horrid beasts,« sagte der Engländer. »Man fällt über Katzen hier in Palestrina. Warum vertilgt man sie nicht?«<lb/>Francesco zuckte die Achseln. »Sie tun niemand ein Leid, Signor. Und ein gelehrter Herr hat mir sogar gesagt, es war ein Tedescho — sie haben wunderliche Einfälle, die Tedeschi —, in den Katzen von Prae-<lb/>neste, sagt er, leben die Seelen der einstigen Priester aus dem Tempel der Göttin Fortuna.«<lb/>»Er hat geschwatzt Nonsens, Ihr Tedescho.«<lb/>»Ich weiß nicht, Signor. So viel ist gewiß, keine andere Kreatur Gottes kommt an vornehmer Würde den Katzen gleich. Sehen der Signor nur den großen Schwarzen an. Er lebt im Vorfhof des Fortunatempels ganz für sich, er gehört niemand. Aber alle geben ihm Futter. He! Checho! Chechino! komm zu mir.«<lb/>Der Engländer zog seine Beine zurück. »Ich lieb‘ nicht Katzenhaare an mein Anzug.« Er sah dem Führer grad ins Gesicht, und im Eifer seines Begehrens wurden die Pupillen seiner hellen Augen so klein wie die Chechinos im Mittagssonnenschein.<lb/>»Können Sie mir den Candelabro verschaffen, Francesco?«<lb/>»Den Candelabro? — Nein, Signor.«<lb/>»Ein Gentleman, der festen Willen hat, kann viel. Mag sein, es würde Ihnen passen, aufzuhören mit Fremdenführen, wie?«<lb/>»Ich kann ihn Signor nicht verschaffen.«<lb/>»Was würden Sie sagen zu zehntausend Lire? — zehntausend Lire?«<lb/>»Impossible, Signor«<lb/>»All right.« Der Engländer stand auf. »Muß ich kaufen ein anderes Antikes, anderswo. Buon giorno.«<lb/>Auf seinen langen Beinen stelzte er zum Eingang der Terrasse und die Treppe hinunter.<lb/>Francesco hatte sich wieder gesetzt. Er zählte den empfangenen Führerlohn in der Hand.<lb/>Da stand Antonio auf, kam zu ihm, ein liebenswürdig verlegenes Lächeln auf seinem hübschen Knabengesicht.<lb/>»Zio Francesco, wie geht es Marietta? Darf man auf den Abend kommen? — Oder ist da einer, der mich zur Tür hinausbrummt — wie neulich? —«<lb/>»Ich brumme dich nicht zur Tür hinaus, Antonio. Die Heiligen lenken die Dinge dieser Welt — oder die alte Heidengöttin Fortuna, ich weiß nicht bestimmt, wer von beiden. Aber ich bin zu alt geworden, um einem von ihnen ins Handwerk pfuschen zu wollen. Das wäre so klug, wie wenn einer den Anio mit seiner Hand aufhalten wollte, wo er in Tivoli aus dem Erdboden bricht und in weißem Schaum zu Tal fällt.«<lb/>»Gesteht es nur zu, Francesco, daß Ihr mir Eure Marietta nicht gönnt.«<lb/>»E vero. Ich gönne sie dir nicht, Antonio. Wer sein Kind lieb hat, der mag ihm gern sein Glück bauen auf festem Stein. Du aber bist weicher Ton.«<lb/>»Glaubt Ihr nicht, daß ich Marietta liebhabe?«<lb/>»Es ist nicht schwer, Marietta liebzuhaben. Hättest du sie nicht lieb, du müßtest kein Herz in der Brust tragen. Sie ist das schönste Mädchen von Palestrina und hat nur Gedanken für dich.«<lb/>»Ich hab‘ sie lieb, Zio Francesco, auf Ehr‘ und Seligkeit. Nach keiner anderen Dirne schau‘ ich aus. Und bin ich nicht fleißig? Komme ich nicht vorwärts? Seht, da in dem Beutel auf der Brust trag‘ ich das Geld, um das Häuschen zu kaufen, in dem ich wohne. Die Oliveta des alten Martino Campez will ich auch kaufen.«<lb/>Francesco unterbrach. »Die Oliveta auch? — Soviel Geld konnst du nicht verdient haben.«<lb/>»Hab‘ nur einen Teil verdient. Das andere hab‘ ich im Lotto gewonnen.«<lb/>Peroni seufzte bewundernd. »Ja, du hast Glück!«<lb/>Antonio lachte. »Zio Francesco, wann soll der Hochzeitstag sein?«<lb/>Aber der alte Führer schüttelte den Kopf.<lb/>»Mein Kind ist sehr jung, und du bist wie ein Füllen auf der Weide. Ich will nicht hindern, was<lb/>die Heiligen beschlossen haben. Aber ich helfe auch nicht, es vollenden. Bei diesem helfe ich nicht.«<lb/>»Was verlangt Ihr denn nur, Francesco?«<lb/>»Daß aus dem Füllen ein Pferd werde. Am Pferd kann ich die Tugenden und Untugenden erkennen, am Füllen nicht. Wenn im Frühjahr die Campagna in Blüten steht, eine Blüte so kraftvoll wie die andere, kannst du sagen, welche von ihnen Frucht ansetzen wird und welche tot vom Stengel fällt? — Ebbene, Antonio, gib der Zeit ihr Recht, daß ich sehe, ob du von denen bist, die am Stengel halten.«<lb/>Er steckte die Münzen zurück in seinen Beutel aus Ziegenleder, zog die Schnur zu und versenkte ihn sorgfältig in der Hosentasche. Dann stand er auf. Auch Antonio nahm seinen Hut und lief leichtfüßig die Treppe hinunter. Seine Maultiere warteten. Er mußte Mehl über die Berge bringen und zurück sein, um die Post zum Abendzug an den Bahnhof zu fahren.<lb/>Was für ein Querkopf, der Alte! Wie gut hätten sie übermorgen am Madonnenfeste verlobte Brautleute sein können, er und die Marietta! Nun, des Mädchens war er sicher. Nur erst Haus und Land erwerben. Der Alte würde schon einwilligen müssen trotz seiner Schrullen.<lb/>Die Sonne stand schon tief. Nur selten drang einer ihrer Strahlen mehr in das düstere Gewinkel von Palestrinas engen gewundenen Gassen. Da kamen in der sinkenden Abenddämmerung den Pier Luigi hinunter die steilen Treppengänge von der Höhe herab, aus der Tiefe herauf, die Frauen des Fleckens, um in bauchigen Kupferkrügen Wasser zu schöpfen für die Nacht. Aus vier zierlichen Röhren sprudelten ununterbrochen die silbernen Strahlen in das weite, steinerne Brunnenbecken, um das die jungen Frauen plaudernd, schauend, verweilten, das Bambino auf dem Arm, die älteren Kinder an den Rockfalten, während die Matro-<lb/>nen traurig murmelnd einander ihr Leid klagten über das Fieber, das Rheuma und die Schlechtigkeit der Welt. Keine hatte mehr Eile, wenn sie ja Eile gehabt hatte im Lauf des Tages. Langsam, gelassen schritten sie wieder von dannen, das volle Wassergefäß auf steif getragenem Kopf. Ihre bunten Gewänder leuchteten zwischen dem gelben Gemäuer. Der Platz wurde leer.<lb/>Da kam aus dunkler Gasse herab noch eine schlanke Dirne in der Jugend erster Blüte, den Kupferkrug auf hochbauschendem Schwarzhaar. Mandelförmig geschnitten schauten Augen von der Farbe der Maulbeere aus der matten Bronze der Haut, Augen fast düster von verhaltener Leidenschaft, und durch die doch — wie Sonnenblicke zwischen Wolkenschatten über eine Landschaft jagen — rasch aufflammende Lichter jugendlichen Frohsinns huschten. Wie Schnitte reifer Granaten glühten ihre Lippen.<lb/>Als die Schöne amtemschöpfend das schwere Gefäß auf den Brunnenrand stellte, erhob sich langsam von einem Steinblock ein Weib, das stumm wartend neben seinem Wasserkrug gesessen gesessen hatte. Eine hagere Matrone war‘s, mehr vom Leid gebeugt als vom Alter. Kaum zogen sich einige Silberfäden durch das glanzlose Haar, das wirr unter dem Kopftuch hervorquoll. Von vergangener großer Schönheit erzählte das scharfgeschnittene Gesicht und vergangenem großen Leid. Auf der Brust der Frau hing an breitem blauem Seidenband das Abzeichen des Ordens der Madonna, das die keuschen Jungfrauen Süditaliens tragen. Langsam, wie in innerem Widerstreben, näherte sie sich dem schönen Mädchen am Brunnen.<lb/>»Marietta! Schöne, feine Marietta Peroni!«<lb/>Das Mädchen zuckte zusammen beim Klang der Stimme. »Was wollt Ihr mir, Concetta?«<lb/>»Nicht erschrecken, Mariettachen, feines, liebes!<lb/>Gutes wünscht die Concetta, nur Gutes. Die Madonna segne dich.«<lb/>Unwillkürlich wich Marietta zurück vor der Annäherung des Weibes. »Verstellt Euch nicht, Concetta. Ich weiß, daß Ihr mir nicht gut seid. Ich weiß auch den Grund. Glaubt, es ist mir leid, Euch mißfallen zu müssen. Aber ich kann nicht anders.«<lb/>Concetta senkte die Stirn, auf der die Falten sich kreuzten wie die Fäden eines Gewirkes.<lb/>»Was heißt nicht gut sein?« murmelte sie und schaute von dem Mädchen fort in das Tropfengeperl des Brunnens. »Ich wollte dir die Hände unter die Füße breiten. Barfuß durch Feuer gehen würde ich für dich. Wie dein Hund wollte ich dir dienstbar sein, wenn du mir das eine zuliebe tätest.«<lb/>»Geht, geht, Concetta. Ihr wißt, es steht nicht in meiner Macht. Was verfolgt Ihr mich?«<lb/>»Was hat Antonio Cavaliero vor meinem Pflegesohn voraus? Ich sinne und sinne und finde es nicht. Er ist nicht schöner, nein, nicht schöner! nicht tapferer, nicht reicher, nicht besser. Nur — meines Luigi Sinn ist fest und treu und der des Antonio schwankt wie das Blatt des Ölbaumes in der Tramontana.«<lb/>Marietta schob ihren Krug hastig unter den Strahl des Brunnens und ließ ihn vollaufen bis zum Rand.<lb/>»Concetta, so fest wie der Fels, auf den Palestrina gebaut ist, steht in meinem Herzen die Liebe zu Antonio. Warum versucht Ihr daran zu rütteln? Seid klug, Concetta. Redet sie Eurem Pflegesohn aus, diese Neigung zu mir, zu der ich ihm nie Ursache gegeben habe.«<lb/>»Ausreden?« Concetta verschränkte die Hände in mühsam bezwungener Leidenschaft. »Santa Madre! Könnt‘ ich‘s! Könnt‘ ich‘s doch im Namen Gottes!«<lb/>Das Gesicht des Mädchens wurde um einen Schein bleicher.<lb/>»Wie Ihr mich haßt, Concetta!«<lb/>»Nein, nein, ich hasse dich nicht! Er, mein Luigi, liebt dich ja. Wie sollt‘ ich dich denn hassen? — Marietta! Süße, goldene Marietta! wenn du vielleicht Anstoß nimmst an der alten Concetta, die Jugend mag nicht hausen mit dem Alter, ich weiß, oh, ich weiß wohl! — Du sollst allein mit ihm wohnen in unserem Haus am Bergeshang. Ich will mir einen Dienst suchen in Subiaco, in Rom — in Neapel, wenn du‘s verlangst.«<lb/>»Es ist nicht das, Mutter Concetta. Um der Madonna willen! glaubt doch nicht, daß ich Euch vertreiben möchte aus Eurem Haus.«<lb/>»So hör‘ ihn nur einmal an, den Luigi. Laß ihn dir von seiner Liebe sagen. Das Herz kehrt er dir um in der Brust. Hör‘ ihn nur an!«<lb/>»Ich will ihn nicht hören.«<lb/>»Doch, doch, Marietta. Sieh, Kind, sieh hier.« Mit zitternden Händen löste Concetta den Knoten eines Tuches. Ein Paar lange Ohrringe schimmerten mit mattem Glanz im Abendlicht. »Da! da!« Sie hielt sie Marietta an die Wange, in das blauschwarz glänzende Haar. »Wie sie dir stehen, Töchterchen! Wie du schön bist! Schau dein Bild da im Wasser! Schau, wie es strahlt! — Ich schenke sie dir. Concetta braucht keinen Schmuck mehr. Nimm sie. Aber hör‘ meinen Luigi an heut abend. Hör‘ ihn einmal an.«<lb/>Fast in Angst stieß Marietta die Hand mit den Ohrringen zurück, schob hastig ihr zum Polster gedrehtes Tuch auf den Scheitel und schwang den kupfernen Krug hinauf.<lb/>»Behaltet Eure Ohrringe, Concetta. Ich will ihn nicht anhören. Laßt mich! Um der Madonna willen, so laßt mich endlich!«<lb/>Fast laufend flog sie die steile Gasse hinan, den Nacken steif wie Eisen und mit hocherhobenem Arm das Wassergefäß stützend.<lb/>Concetta starrte ihr nach, bis der letzte Zipfel ihres blauen Rockes um die Ecke verschwand. Ihre stumpf gewordenen Augen funkelten vor Leid und Zorn.<lb/>»Tanzest du auf Herzen, du Stolze! — Gib acht! Gib acht, daß dir nicht deines zertreten wird!«<lb/>Widerwillig begann sie ihren Weg zu schreiten, schleppenden Ganges, als fürchte sie sich, ihr Ziel zu erreichen. Doch so langsam sie ging, das Ende des Weges kam. Weit offen stand die Pforte zum Vorhof des Seminars, dem alten Vorhof des Heiligtums der Göttin. Um den weißen Marmor der Säulenstümpfe wob schon Dämmerung. Dämmerung füllte die schmalen Gänge hinter wucherndem Schlingkraut und zerbröckelnden Mauerwänden, die einst die weissagenden Priester gewandelt waren, und wie geheimnisvolles Leben, aus Schatten steigend und in Schatten zerfließend, bewegte sich lautlos das Katzenvolk zwischen den Trümmern. Einige saßen auf den Steinen, selbst reglos, wie aus Stein gehauen, mit funkelnden Sternenaugen. Nur die äußersten Spitzen der an den Säulenstümpfen herabhängenden Schwänze, die sich launisch hin und her bewegten, verrieten, daß lebendiges Leben in ihnen wachte, heiße Leidenschaft, die sich verhielt, bis eine Gelegenheit sie hervorstürzen machte, wild und ohne Erbarmen.<lb/>Und noch ein Lebendiger kauerte auf einem Marmorblock zwischen den Säulenstümpfen, reglos wie die Katzenschar und voll verhaltener Leidenschaft wie sie — Luigi Vanutelli. Grad auf ihn zu schritt Concetta mit ihrem müden, schleppenden Gang.<lb/>Er hob den Kopf aus den Händen. »Nun? Nun was Concetta?«<lb/>Heiser klang die Stimme, gepreßt von einer großen Angst.<lb/>»Du hast mich zu ihr geschickt, Luigi. Ich bin zu<lb/>ihr gegangen. Ich hab‘ zu ihr gesprochen, wie du mich hast sprechen heißen.«<lb/>»Habt Ihr von meiner großen Liebe gesagt? daß ich nicht arbeiten kann am Tag, nicht Schlaf finde in der Nacht, weil ich an sie denken muß, immer an sie?«<lb/>»Ich hab‘ ihr von deiner Liebe gesagt.«<lb/>»Daß sie wie eine Principessa wohnen soll in meinem Haus?«<lb/>»Ich hab‘ gesagt, daß ich ihr Platz machen will.«<lb/>»Daß ich einmal ein großer Herr sein werde, Concetta, habt Ihr das gesagt? Daß meine Frau Korallen tragen wird und Spitzen aus Venedig?«<lb/>»Ich hab‘ ihr meine Ohrringe angeboten.«<lb/>»Und sie? Und sie?«<lb/>»Wie der Stein da, Luigi.«<lb/>Er sprang auf. »Was?! Was?! — Keine Botschaft hat sie Euch aufgetragen an mich? Nicht ein Wort? Nicht einen Dank? — Besinnt Euch, Mutter Concetta! Nicht ein einziges Wort?«<lb/>Concetta spreizte die Finger auseinander und hob die Hände, eine Gebärde von seltsam eindringlichem Ausdruck. — »Niente.«<lb/>Luigi stieß einen Schrei aus. Sein Haar raufend rannte er zwischen den Säulenstümpfen auf und nieder, auf und nieder zwischen den reglosen Katzengestalten, die mit großen Augen staunend ihm nachstarrten.<lb/>»Kein Wort! Nicht ein einziges kleines Wort für mich! — Und für den Antonio hat sie so viele, wie der Olivenbaum Früchte trägt!«<lb/>Traurig sah Concetta auf den Ergrimmten.<lb/>»Du hast kein Glück, Luigi. Ich hab‘ keins gehabt. Du hast auch keins.«<lb/>Er lachte zornig, verächtlich. »Ihr, Concetta, nun ja, möglich. Aber warum soll ich kein Glück haben? eines Fürsten Sohn! Daß ich‘s bin, habt Ihr mir<lb/>hundertmal geschworen. Eines Principe und einer Principessa ehelicher Sohn. Sie werden zurückkommen, ihr Kind fordern.«<lb/>Die Alte schlug die Lider über die schwarzen Augen. Ihre Finger zupften am Band des Madonnenordens. »Ja, ja, gewiß. Im Hafen von Neapel, da gaben sie dich mir, als sie abreisten nach Amerika. So ist es. Ja, so ist es.«<lb/>»Und da sollte ich diesem Antonio weichen, dem Schuhmacherssohn! dem Betteljungen, der von Almosen groß geworden ist?!«<lb/>»Mein Luigi, du bist schöner als er. Du bist besser — ja, viel besser —«<lb/>»Eines Fürsten Kind bin ich.«<lb/>»Ja, eines Fürsten Kind. Aber, Luigi, der Antonio hat Glück. Und du, du hast keins.«<lb/>»Kein Glück!? — Sag‘s nicht noch einmal, das Wort der Feiglinge und der Weiber! Wer ein Mann ist, der erzwingt sich das Glück. Ich will verdammt sein, wenn —«<lb/>»Oh, Santa Madre, halt ein!«<lb/>Gerade drängte in Feierabendübermut ein Trupp Burschen vorüber.<lb/>»Holla! Hört! Der Luigi Vanutelli will das Glück fangen. Ksch! Hopp! — Greif fest zu, Luigi! Glatt wie eine Eidechse ist das Glück.«<lb/>Wild hob Luigi sein zorniges Gesicht den Spottenden entgegen.<lb/>»Ich fass‘ es! Hier im Tempel der alten Glücksgöttin und ihr zum Trotz schwör‘ ich‘s: Ich fasse das Glück — oder ich will verdammt sein für Zeit und Ewigkeit.«<lb/>Ein Laut aus den Ruinen antwortete, ein langgezogener, fremdartiger Laut. War es ein Echo, das die harte Menschenstimme in den zerbröckelnden Höhlen und Wölbungen weckte? eines aufgeschreckten<lb/>Nachtvogels Schrei? War es Fortunas Streitruf? — Schwer von überirdischem Grausen brach der unerklärliche Ton aus dem Dunkel und verhallte im Dunkel.<lb/>Verstummend, mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen starrte Luigi die kahle Steinwand der Grotte an, während Concetta mit einem Weheruf den Rosenkranz aus dem Gürtel riß und, ihn mit Küssen bedeckend, Gebete murmelte.<lb/>Den lachenden Burschen aber gefror das Scherzwort auf den Lippen. Von Grauen getrieben hasteten sie vorüber. —<lb/>Ein Tag und eine Nacht vergingen. Es war der Vorabend des Marienfestes, und dies lieblichste aller Feste strahlte Freude vor sich her. Morgen im Sonnenschein würde die Prozession die steilen Gassen und Treppenstufen von Palestrina hinaufklimmen, die Himmelskönigin im Feierkleid tragend, begleitet von den Jungfrauen des Ortes in weißen Gewändern und Schleiern, um den Hals das Abzeichen des keuschen Madonnenordens an breitem blauem Seidenband, von den Bambini mit Rosenkränzen auf den Lockenköpfen und Engelsflügeln an den Schultern, von dem Prete und den Vikaren im höchsten Ornat. Heut, während der Glockenton verhallte, der die Vesperandacht ausläutete und am Himmel die Mondsichel und der Abendstern Glanz gewannen, füllte ganz irdische, ganz menschliche Freude die düsteren Gassen. In den Trattorien gönnten die lebfrischen Burschen sich einen besonders guten Trunk, oder sie sagten den Dirnen Schönes, die in Sonntagsgewändern zu zweien und dreien lustwandelten oder Heiligenbilder erstanden bei dem Verkäufer an der Kirchenecke. Einige saßen auf den Trümmern der Zyklopenmauern den Fenstern ihres Mädchens gegenüber und sangen zur Mandoline ihre Liebe. Die aber nicht verliebten Herzens waren und denen es nicht genügte, mit den Alten plaudernd vor<lb/>den Türen zu stehen, die fanden sich zu allerlei Glücksspielen zusammen. Neben Fortunas altem Säulenhof brannte in einem Ring an der Mauer eine Pechfackel. Bei ihrem Schein wurde das Biribispiel getrieben, ein Kartenratespiel um Tauben, Enten, Kaldaunen, zuletzt auch um Münzen. An der anderen Seite der Pforte hatte Luigi Vanutelli ebenfalls eine Pechfackel befestigt und einen niedrigen Tisch mit einem Roulettespiel aufgestellt. Das war etwas Neues in Palaestrina. Noch neuer war‘s, daß Luigi spielte. Man denke! Luigi Vanutelli, der Murrkopf! der sich von allem Zeitvertreib der Jugend zurückhielt! der hochmütige Sohn eines Principe! — Kannte man ihn wohl wieder heut abend? Er schien wie im Fieber.<lb/>In Luigi brannte wirklich ein Fieber. Während er seine mageren Esel schwerbeladen über die Berge trieb, hatte er unaufhörlich gegrübelt, auf was für eine Art er seinen Schwur erfüllen, das ihm widerstrebende Glück zwingen solle. Seine Gedanken gingen langsam und schwerfällig wie seine Esel. Aber zu dem Begreifen tappten sie sich durch, daß das Glück irgendwie mit Geld und Gut zusammenhinge. Sein fürstlicher Vater gab ihm nichts. Seine Tiere wurden alle Tage hinfälliger. Er mußte neue Wege finden, Geld zusammenzuraffen, viel Geld. Ein Hausierer, der sein Weggefährte nach Subiaco war, bot ihm eine Art Roulettespiel an, wie sie an Frankreichs Südküste gebräuchlich sind. Er nahm diesen Zufall für einen Fingerzeig und griff hastig zu. Von dem Händler ließ er sich die Regeln sagen, kratzte zusammen, was an Münzen sich in seinen Taschen fand, trotzte Mutter Concetta ihre letzten Ersparnisse ab — und am Abend saß er mit flimmernden Augen auf den alten Tempelstufen und gewann — und gewann.<lb/>Inzwischen hatte auch Antonio Feiertagsgewand angelegt. Aber er mied die belebten Gassen, den Markt-<lb/>platz voller Menschen. Vorsichtig schritt er die steile dunkle Via della Fontana hinauf, immer im Schatten der Gewölbe, die feucht waren vom Sprühschaum des zu Tal rauschenden Baches, bis er durch eine schwarz gähnende Höhlung auf eine schmale Konsole gelangte, die geländerlos über dem Abgrund sich hinzog, auf dessen Sohle der Bach brauste. Langsam schob er sich auf dem Mauerstreif vorwärts bis zu einem Fensterchen, hinter dessen Scheiben Licht brannte. Sich an der Brüstung festhaltend, schaute er durch die winzige Luke. Drinnen saß beim Schein einer dreiarmigen Messinglampe Marietta Peroni vor einem winzigen Spiegelchen, bauschte und wand ihr schwarzes Haar, das wie ein Mantel um sie fiel, und legte es in schweren Flechten um ihren Hinterkopf.<lb/>Eine kleine Weile erfreute der Bursch sich an den herben Linien der nackten schlanken Arme, der bräunlichen Schultern. Dann stieß er ein leises Taubenrucksen aus.<lb/>Mit einem Aufschrei sprang das Mädchen vom Schemel und riß das Fenster auf.<lb/>»Antonio! Antonio! Um der Madonna willen! Bist du wieder den gefährlichen Weg gegangen?«<lb/>Der Bursch steckte sein lächelndes Gesicht durch die winzige Öffnung.<lb/>»Ist Vater Peroni zu Haus?«<lb/>»Nein. — Oh, Antonio, es ängstigt mich jedesmal von neuem. Wenn du stürztest!«<lb/>Er nickte. »Va bene. So komm‘ ich herein.«<lb/>Sie erwiderte kein Wort. Besorgt sah sie ihm nach, wie er mit der Sicherheit einer Katze den schmalen Absatz entlang schritt. Er bog zurück durch die dunkle Höhlung zur Tür des Hauses, in dem Francesco Peroni wohnte.<lb/>Im hastig übergeworfenen Leibchen empfing Marietta ihn an der Schwelle und zog ihn in den Wohn-<lb/>raum. Eine fensterlose Höhle war‘s, vielleicht eine der alten Tempelgrotten, die sich einst unter den Säulenhallen hinzogen, die niedere Decke schweres Steingewölbe, und Stein die Wände, von denen der dünne Verputz längst abgebröckelt war. Ein großer Tisch mit Bänken und Stühlen darum stand in der einen Ecke und gab der Stube einen schwachen Anstrich von Gemütlichkeit. Marietta stellte die Lampe auf den Tisch.<lb/>»Daß du nur lebend hier bist Antonio! Ich verlerne die Angst nicht.« Und dann mit einem Anflug von Vorwurf: »Warum magst du nicht kommen, wenn Vater zu Hause ist?«<lb/>Antonio setzte sich auf einen Stuhl, Mariettas Hände in den seinen haltend. »Carina, ich mag nicht saure Gesichter sehen. Ich mag nichts Saures. Darum lieb‘ ich ja dich, Marietta, weil du süß bist wie ein Pfirsich im August.«<lb/>Das Mädchen blieb ernst. »Vater hat nichts Saures. Er ist klug und gut.«<lb/>»Signor Francesco Peroni ist der würdigste Mann in ganz Palaestrina. Bist du mir böse, daß seine Tochter Marietta mir doch besser gefällt?«<lb/>Da mußte sie lachen. »Du bist ein Schalk.«<lb/>Er aber riß sie an seine Brust, bedeckte ihre granatroten Lippen mit Küssen, und sie auf seinen Knien wiegend flüsterte er ihr ins Ohr: »Sag‘, wer ist deinem Herzen lieber, Francesco Peroni oder Antonio Cavaliero?«<lb/>»Lieber, das läßt sich nicht vergleichen.«<lb/>»Wenn du wählen müßtest —«<lb/>»Ich muß nicht wählen. Vater ist gut.«<lb/>»Aber er will dich mir nicht geben.«<lb/>»Wie sollte er nicht? Er weiß, daß ich nicht leben kann ohne dich, Antonio.«<lb/>»Also hast du mich wirklich lieb? Sag‘, wie lieb.«<lb/>Ihre Augen wurden groß und ernst. »Oh, Antonio!«<lb/>»Sag‘s, ich will‘s wissen.«<lb/>Sie schüttelte den Kopf.<lb/>»So lieb wie deine schwarzen Flechten? Wie die Korallenkette an deinem Hals? So lieb wie Lucia Bretelli, deine Gespielin?«<lb/>»So lieb wie Gott.«<lb/>Sie sagte es langsam, feierlich, und sie machte sich von ihm frei, stand blaß und groß vor ihm. »Damit darfst du nicht Spaß treiben, Antonio! mit meiner Liebe nicht. Die ist etwas so Heiliges wie der Altar der Madonna. Ich kann auch nicht sagen, wann sie angefangen hat. Meine Mutter, die im Himmel bei den Engeln ist, hat mir oft erzählt, daß ich schon als kleines Kind die Arme ausgestreckt habe nach dir, wenn du vorübergingst. Du hast‘s nicht gemerkt. Auch später nicht. Wie bitter hab‘ ich oft den schwarzen Chechino beneidet, weil du ihn liebkostest und nicht mich. Ich hab‘ mir aber doch die Milch von meinem Frühstück abgespart und ihm gebracht, nicht weil ich ihn lieb hatte, sondern weil er dein Liebling war. Und als die Burschen anfingen nach mir zu schauen, da hab‘ ich nur auf dich gesehen. Du merktest es nicht. Du hast gescherzt mit der Elvira und der Julia Bänder geschenkt. Du hast auch nicht gemerkt, daß ich fast gestorben bin vor Leid, als du mit den Soldaten fort mußtest. Und ich hab‘s doch immer gewußt, da, tief innen, daß wir zusammengehören, du und ich, hier auf Erden und droben bei den Heiligen, zusammen in Leid und Seligkeit. Und als du zurückkamst, durch ein Wunder der Madonna gerettet —«<lb/>»Weil du für mich gebetet hattest, Marietta.«<lb/>»Ich weiß nicht. Aber du kamst zurück, von allen du allein. Der Battista liegt unter Messinas Steinen. Von Masetto hat keiner mehr gehört. Du kamst zurück. Die große Straße kamst du herauf, ein wenig mühsam schreitend, deiner Wunde wegen. Ich stand<lb/>neben meinem Vater und starrte dir entgegen und da — da sahen zum erstenmal deine Augen auf mich.«<lb/>»Weil du da zum erstenmal du selbst warst. Wer sieht‘s dem dornigen Rosenstrauch des Winters an, wie er sein wird, wenn er im Mai in Blüten steht? Ich hab‘s nicht gewußt, daß die kleine Marietta die Schönste werden würde, die meine Augen je gesehen haben.«<lb/>»Weh, Antonio! Wenn ich sie nun verlöre, diese Schönheit, die die Jugend mir gibt? — Würdest du aufhören mich zu lieben?«<lb/>Er zog sie wieder an sich und küßte sie. — »Spricht Francesco Peroni zu mir? — Der schilt mich wankelmütig, veränderlichen Sinnes. Ich aber halte, was mein ist. Ich halte dich, Marietta. Bald soll dein Vater dich mir geben müssen. Sieh, da auf der Brust trag‘ ich den Kaufpreis für das Haus, in dem ich wohne, und für Martino Campez Oliveta. Gestern hab‘ ich mir das Geld von Subiaco geholt. Morgen mach‘ ich‘s fest mit dem alten Campez. — Was ficht dich an, Marietta?«<lb/>Sie preßte die Hand auf das Herz. Ein Ausdruck schmerzlicher Ergebung trat in ihre Augen.<lb/>»Oh, Antonio, du planst so viele große Dinge und setzest sie durch, und mußt deine Gedanken allerorten haben, den ganzen Tag. Ein Mann wie du kann nicht lieben, wie ich törichtes Mädchen liebe. Denn ich denke ja nichts vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen als an dich. Aber, nicht wahr, das fühlst auch du, daß wir zwei zusammengehören für immer, daß du mich nie, niemals mehr lassen kannst?«<lb/>Darauf zur Antwort hatte er nur Küsse. Berauschend und keusch zugleich wie die wilden Narzissen am Berghang schien ihm die Dirne. Und es war stolze Wonne zu wissen, daß, während alle Bur-<lb/>schen von Palestrina sie begehrten, ihre Seele willenlos ergeben ihm zu Füßen lag, und keines anderen Mannes Bild je in sich aufgenommen hatte.<lb/>In einer Art Rausch schied er von ihr. Jetzt war die hohe Zeit seines Lebens, die Zeit, da alle Erfüllungen ihm reiften, wie die Früchte des Feldes im Erntemonat, Besitz und Eigentum und das Weib, das er liebte.<lb/>Um die Ecke biegend traf er auf einen Trupp junger Burschen und gern ging er mit ihnen auf die Terrasse der Trattoria. Irgendwie mußte das quellende Glücksgefühl in ihm sich Raum schaffen. Im Mondscheinnebel verschwamm die weite Landschaft. Fern am Horizont grüßte, ein schmaler Glitzerstreifen, das Meer. Zwischen den jungen Blättern des Weines leuchtete es hindurch, den silbernen, wolligen Blättchen, die, glänzend von der Überfülle ihres Saftes, vor Antonios Augen zu wachsen, sich zu entfalten schienen. Wie der Saft im frühlingstollen Weinstock kreiste, so fühlte er sein junges Blut feurig und lebensgierig ihm durch die Adern jagen. Nicht gering war die Zahl der Becher kühlen Abruzzenweines, den Signorina Lucia ihm kredenzen mußte. Wem auf der Brust genug Hundert-Lire-Scheine rascheln, um Haus und Land zu kaufen, wem das schönste Mädchen weit und breit in treuer Liebe eigen ist, soll der die Soldi knausernd zählen, wenn es gilt seines Lebens Gipfelstunde zu feiern?<lb/>Mit den anderen Burschen verließ er endlich die Terrasse, wandelte über den Markt an dem Heiligenbilderverkäufer vorbei, der eben seine Vorräte einpackte, und kam zu dem Roulette, an dem Luigi Vanutelli Bank hielt. Nur wenige Burschen umstanden es noch. Luigi rief ihn an.<lb/>»He! Antonio! Antonio Cavaliero! willst du nicht auch dein Glück versuchen?«<lb/>Gewiß wollte er. Er traute sich‘s zu, Berge zu versetzen an diesem Abend.<lb/>»Va bene! Sag‘, wie‘s geht, das Spiel.«<lb/>Battista Verena, der seinen Wochenlohn schon auf Luigis grüner Zahlentafel gelassen hatte, zupfte Antonio am Ärmel. »Laß sein. De Teufel sitzt in der kleinen Kugel.«<lb/>»Bist bange?« fragte Vanutelli, unter den dichten Brauen herauf höhnisch auf seinen Rivalen starrend. »Auf eine der Nummern da mußt du setzen. Zwanzig sind‘s. Bleibt die Kugel da auf ihr stehen, geb‘ ich dir zwanzigfach deinen Einsatz.«<lb/>Lachend nestelte Antonio eine Lire aus seinem Beutel. Da geschah etwas Seltsames. Chechino tauchte aus dem Dunkel des Tempelhofes, sprang auf die Tafel, mitten zwischen die Soldi, die einzelne Spieler schon auf die Zahlen geschoben hatten. Mit hohem Buckel drängte er sich zwischen Antonios ausgestreckten Arm und das Spiel.<lb/>»Carambo! Fast dürft‘ ich nicht,« rief da Antonio. »Den Weg, den eine Katze dir sperrt, sollst du nicht schreiten.«<lb/>Luigi stieß unsanft den Kater vom Spieltisch und rückte die verschobenen Münzen zurecht.<lb/>»Bist du solch ein Angstmann?!«<lb/>»Es ist was dran an dem alten Spruch,« antwortete Antonio träumerisch. »Damals in Messina drunten — ich hab‘ nie davon reden mögen —, als der erste Stoß von dem schrecklichen Terremoto uns aufschreckte aus dem Schlaf, da liefen alle Kameraden durch die große Tür auf den Kasernengang. Ich wollte ihnen nach. Ich rannte, ich stürzte. Auf einmal stand einer auf der Schwelle wie der Chechino, alle Haare gesträubt von Entsetzen, stand und wich nicht vor- noch rückwärts. Und ich weiß nicht, wie es zuging, ich konnt‘ nicht über ihn weg. Was ich dachte, kann ich nicht sagen. Man denkt verteufelt schnell in solchem Augenblick. Das eine fühlt‘ ich, über ihn weg konnt‘ ich<lb/>nicht. Lief also nach der anderen Tür, die auf einen Balkon ging, einen Balkon zwei Stockwerke hoch. Es war dumm. In der nächsten Sekunde kam der zweite Stoß. Die stürzende Decke hat all meine Kameraden erschlagen. Ich fiel mit dem Balkon oben auf die Trümmer und quetschte mir nur gerade das Bein.«<lb/>»Dann mußt du deine Lira wohl in der Tasche behalten.«<lb/>»Niente. Eine Lira ist nicht der Hals. Ich wag‘ sie trotz des Chechino.«<lb/>Er schob die Münze auf die Sieben. Und Sieben gewann. Zwanzig Lire zahlte Luigi aus.<lb/>Hei! ging das Gewinnen hier so schnell? Ein lustiges Spiel, das in einer Minute mehr einbringt als zwei harte Arbeitstage. Die ganzen einundzwanzig Lire schob Antonio auf die Vierzehn.<lb/>»Hälst du das, Luigi?«<lb/>Wenn er genug gewann, würde er das andere Stück der Oliveta auch noch dazu kaufen und einen Hochzeitsschmuck für Marietta — einen Schmuck! — Da zog Luigi die einundzwanzig Lire ein.<lb/>»Hoho! Meinst du, daß ich dir die lasse? Gleich sollst du mir‘s zwanzigfach zurückgeben!«<lb/>Er riß den Beutel von seiner Brust hervor. Mochten‘s doch alle sehen, daß er Geld hatte!<lb/>»Wechsle mir mal den.«<lb/>Das konnte Luigi. Er hatte schon hundert Lire beisammen.<lb/>»Jetzt paß mal auf!«<lb/>Gleich zehn Lire setzte Antonio trotz seiner Kameraden Mahnen und Warnen. Er verlor.<lb/>»Schadet nichts. Sobald ich gewinne, hab‘ ich zweihundert Lire. Nicht, Luigi? Nun merk‘ ich schon das Spiel. Ja, rechnen hab‘ ich immer gekonnt. Paß nur<lb/>auf, du, das es dir nicht an Geld fehlt, mich auszuzahlen.«<lb/>Er verlor, gewann einmal und verlor und verlor wieder. Er wechselte den zweiten Schein, den dritten, den vierten. Er hob die Faust gegen die, die ihn zurückhalten wollten. Bildeten sie sich ein, er würde dem Luigi Hunderte schenken? — Ah, nein, solch ein Narr war er nicht. Er wollte sein Geld, sein sauer verdientes Geld wollte er zurück. Und er setzte mit funkelnden Augen, mit glühender Stirn — Zehn-Lire-Scheine, Lire, Soldi. Und dann kam der Augenblick, da er mit fliegenden Händen seine Börse durchwühlte, den Beutel auf seiner Brust. Und in dem Beutel war kein Schein mehr und in der Börse kein armer Soldo.<lb/>Da wachte er auf. Da wurde er nüchtern. Sein künftiges Haus verspielt, seine Maultiere verspielt, den Erwerb von Jahren, den Gewinn, den das Glück ihm in den Schoß geworfen hatte, seine Hoffnung für die Zukunft, die Möglichkeit, sein Haus zu gründen, Marietta heimzuführen — alles, alles verspielt! verloren!<lb/>Die letzten Burschen waren, zornig über seine Halsstarrigkeit, fortgegangen, er stand allein Luigi gegenüber.<lb/>»Gib mir zehn Lire,« sagte er heiser. »Ich will noch einmal setzen.«<lb/>Luigi schob kaltblütig Scheine und Münzen zusammen. »Wenn du kein Geld mehr hast, kannst du nicht spielen. Das Spiel geht nur um Bargeld.«<lb/>»Ich will aber spielen! Hörst du! Ich will! Bube, du! Gib mir das Geld für mein Haus wieder, für Martino Campez Oliveta. Gib mir‘s wieder!«<lb/>Luigi begann die Nummertafel zusammenzurollen.<lb/>Da legte Antonio die Faust auf den Tisch. »Du kommst nicht fort! Ich duld‘s nicht, daß du mich zum Bettler machst und davongehst! Eine Möglichkeit zu<lb/>gewinnen mußt du mir noch geben, eine einzige Möglichkeit!«<lb/>Einen Augenblick stand Luigi abwägend. Dann trat ein böses Funkeln in seine Augen.<lb/>»Va bene. Ich bin‘s nicht schuldig. Aber du sollst deine Möglichkeit haben, Antonio. Hier steht all das, was du heut verloren hast.« Er legte die Hand auf die Scheine. »Du, schiebe das abgefallene Blatt da auf welche Nummer du willst. Es soll stehen für etwas, das die gehört und das ich annehmen will an Geldes Statt. Für Marietta Peroni steht dies Blatt.«<lb/>Antonio fuhr zurück. »Bist du bei Sinnen?!«<lb/>»Merk‘ wohl, was ich sage, Antonio. Hier steht, was du verloren hast. Es soll wieder dein sein bis zum letzten Soldo, wenn du gewinnst. Verlierst du aber, so sollst du Marietta Peroni nicht freien. Nie wieder sollst du sie küssen, noch ihr Liebesworte sagen, sollst ihr keine Serenata bringen, noch sie betören mit zärtlichen Blicken oder Seufzern — niemals, niemals wieder, solange ich, Luigi Vanutelli, lebe und atme. Das schwöre bei deiner Seele Seligkeit. Hier sind die Nummern. Schwöre.«<lb/>Eine halbe Minute zögerte Antonio. Aber er rechnete auf die Gunst des Glückes, das ihn sein Leben lang behütet und emporgetragen hatte. Nimmer konnte ihm das in einem Augenblick alles rauben lassen, was seinem Leben Wert gab. Er mußte gewinnen. Diesmal mußte er gewinnen.<lb/>»Ich schwöre,« sagte er, hob die rechte Hand zum Himmel und schob mit der Linken das von Luigi bezeichnete Blatt auf die Sieben, seine erste Gewinnnummer.<lb/>Die kleine Kugel klapperte, sprang und stand.<lb/>»Achtzehn.«<lb/>Blöd wie das von der Keule getroffene Schlachtvieh starrte Antonio auf die Felder der zur Ruhe ge-<lb/>kommenen Scheibe. Wie eines Sterbenden ging sein Atem. Er sah Marietta in ihrer hinreißenden Lieblichkeit, wie sie heut vor ihm gestanden hatte. Verloren! Verloren auch sie! Wie aus weiter Ferne klang Luigis Stimme an sein Ohr.<lb/>»Du hast geschworen! Bei deiner ewigen Seligkeit hast du‘s geschworen: Nie mehr, solang‘ ich lebe, wird deine Hand Marietta Peroni berühren, noch dein Mund sie küssen.«<lb/>Da schlug Antonio mit einem Aufschrei die Hände vors Gesicht und stürzte fort in die Nacht.<lb/>In Luigi war ein wildes Siegesgefühl, daß er den Mann, der zeitlebens ihm im Weg gestanden, zeitlebens die Blumen vorweggepflückt hatte, nach denen er, Luigi, die Hand ausstreckte, daß er den glücklichen Antonio endlich niedergerungen hatte, ihm abgenommen all das, mit dem er sich vor ihm brüstete, und neben dem Gefühl des Sieges und fast noch mächtiger eine große Verachtung. Nimmer hätte er, Luigi Vanutelli, der Bittere, das Stiefkind des Glücks, das Mädchen seiner Liebe auf eine Nummer gesetzt! Hätte die törichte Marietta ihm ihr Herz geschenkt statt dem eitlen Antonio — nicht auf der Folter würde er sie einem anderen überlassen haben!<lb/>Als er den Arm emporreckte, die Fackel zu löschen, trat zwischen den Säulenstumpfen des alten Tempelhofes ein blonder Fremdling hervor. Luigi unterschied eine schottische Reisemütze, helle scharfblickende Augen. Er erkannte den Inglesi, der schon seit Tagen sich in Palestrina aufhielt.<lb/>Der Fremde blieb vor ihm stehen.<lb/>»Sie scheinen mir zu sein ein Mann, das weiß, was Geld ist wert. Es gibt nicht viel solcher in Palestrina.«<lb/>»Geld ist zu vielen Dingen nütze,« antwortete Luigi. Dabei knöpfte er mißtrauisch die Jacke über seinem<lb/>Gewinn zusammen. Dachte der Fremde ihn hier im Dunkeln auszurauben? Er mochte sich hüten, Luigi verstand sein Messer zu brauchen.<lb/>»Ich weiß ein Geschäft,« sagte der Engländer, »womit Sie können machen viel Geld, Haufen von Geld.«<lb/>»Geschäfte kosten manchmal mehr, als sie einbringen,« erwiderte Luigi kühl.<lb/>»Dieses wird sie kosten nicht einen Soldo. Und Sie werden machen damit zehntausend Lire.«<lb/>Luigi fühlte ein leises Drehen unter seinem harten beuligen Schädel. Zehntausend Lire! Verspottete der ihn? oder kam wirklich heut das Glück zu ihm, das ganz große Glück?<lb/>»Was soll ich für soviel Geld denn tun?« fragte er.<lb/>Der Engländer trat ganz dicht heran. »In der Kirche hier steht ein Candelabro, ein alter, steinerner Candelabro, den Leuten von Palestrina zu gar nichts nütze. Es gibt aber in mein Land sonderbare Menschen. Die würden geben aus zehntausend Lire dem Mann, der ihnen trägt den Candelabro über die Mauer. Sie haben Träger und Wagen und all das. Nur aus dem Tor muß ein Mann aus Palestrina ihn tragen. Kommt er hinaus zu ihnen mit dem Candelabro, werden sie ihm auszahlen das Geld sofort.«<lb/>So, um den Candelabro handelte es sich. Das Fieber in Luigis Gemüt sank. Er nahm die Fackel aus dem Ring und stieß sie auf das Pflaster, um die Flamme zu löschen. »Ich will Ihnen sagen, Signor, bei uns zu Land steckt man Diebe ins Gefängnis. Auf einer Insel bei Neapel können Sie sie sehen mit Kugeln an den Beinen.«<lb/>»Man steckt auch wohl in Italien nur die ein, die man hat. Sie scheinen mir nicht zu sein wie ein Mann, der sich läßt fangen — was?<lb/>»In fatto, Signor, nein. Darum wäre es wohl besser, Sie reisten bald ab.«<lb/>»Was? Sie wollen nicht verdienen zehntausend Lire?«<lb/>»Die Luft hier könnte Ihnen schlecht bekommen, Signor.«<lb/>»Ich werde nicht abreisen. Sie werden sich überlegen mein Vorschlag. Sie sind nicht der Mann, der läßt aus seiner Hand gehen zehntausend Lire. Ich hab‘ Ihr‘ Augen gesehen bei das Spiel. Sie werden kommen zu mir bald.«<lb/>»Rechnen Sie nicht zu fest darauf.«<lb/>Luigi stapfte heim zu Concettas kleinem Häuschen. Nein, das Anerbieten des Fremden lockte ihn nicht. In der Tasche trug er Geld genug, um seinen hungernden Eseln Futter zu kaufen und neue, kräftigere zu erstehen. Auch an Aufträgen würde es ihm künftig nicht mangeln. Antonio, sein Rivale, war zugrund gerichtet. Nimmer erholte der sich von dem Schlag. Und da auch Marietta ihm genommen war, mußte er bald Palestrina den Rücken wenden. Nicht ferner würde Luigi dem Verhaßten auf seinem Weg begegnen. Und all dies sichere Glück sollte er aufs Spiel setzen, sein Selbstgefühl als ehrlicher Mensch, vielleicht eine Zelle auf der Insel der Verdammten bei Neapel beziehen, um der unsicheren Verheißung eines Fremden willen?!<lb/>Im Lichtschimmer der ewigen Lampe, die vor dem Muttergottesbild in der ärmlichen Stube brannte, lag Concetta, Gebete murmelnd, auf dem Estrich. Luigi blieb verwundert stehen.<lb/>»Ihr noch wach, Mutter Concetta? Läßt Euch die Sorge um Eure Sparpfennige nicht Schlaf finden? — Da sind sie, Concetta! Da habt Ihr sie wieder. Und hier ist mehr, viel mehr.«<lb/>Stolz zählte er Scheine und Münzen aus seinen Rocktaschen auf den Tisch. »Da! Da! Und hier! Seht! Seht doch! Hab‘ ich‘s Euch nicht gesagt, daß<lb/>ich das Glück zwingen werde? — Wie? Wundert Ihr Euch denn gar nicht?«<lb/>»Ich weiß ja, ich weiß ja,« murmelte das Weib. »Ich hab‘ an der Mauer gestanden im Vorhof des Seminars. Es ist des Antonio Geld.«<lb/>»Gönnt Ihr mir‘s nicht?«<lb/>Concetta faßte seine Hände und bedeckte sie mit Küssen. »Alles gönne ich dir, Liebling! mein goldener! Alles Beste! Alles Schönste! — Ich bete ja nur zur Madonna, daß sie dir deinen Reichtum segnen möge.«<lb/>»Warum sollte sie nicht? Hab‘ ich doch kein Unrecht getan. — Weckt mich morgen in der Frühe, Concetta. Will mir beim Kaufmann eine neue Jacke kaufen, der Madonna und ihrem Fest zu Ehren.«<lb/>»Ich hab‘ dein Hemd gewaschen und gebügelt, Luigi, und fein getollt an Hals und Händen. Dein roter Gürtelschal ist auch wie neu.«<lb/>»Ja, Ihr sorgt gut für mich, Alte, beinahe als wär‘ ich Euer eigener Sohn.«<lb/>»Beinahe, ja, mein Luigi.«<lb/>»Wenn ich erst da angelangt bin, wohin ich meiner Herkunft nach gehöre, will ich‘s Euch gedenken. Es ist ein großes Unglück, daß Ihr den Namen meines Vaters, des Principe, nicht nennen könnt. Mein Leben wäre weniger schwer geworden.«<lb/>»Ich hab‘ ihn vergessen, mein Luigi. Mein Kopf ist oft schwach. Und ich hab‘ ihn nur ein einziges Mal gehört. Trag‘ mir‘s nicht nach. Sieh, es würde dir auch nichts nützen, wenn ich ihn wüßte. Sie waren verarmt, deine Eltern, sie flüchteten, als sie dich mir gaben. Vielleicht sind sie längst tot.«<lb/>»Sie könnten doch auch wiederkommen. Wie? Meint Ihr nicht?«<lb/>Mit zitternden Fingern streichelte Concetta Luigis Wange.<lb/>»Nein, mein Luigi, nein. Denke nicht daran, hoffe nicht darauf. Sie kommen nicht wieder, nie wieder. Du mußt vorliebnehmen mit der Liebe der alten Concetta, du mußt vorliebnehmen mit dem Häuschen, dem Stückchen Land, das sie die geben kann. Alle lieben Heiligen mögen dir‘s segnen.«<lb/>Luigi seufzte. »Ja ja, Ihr meint‘s gut. Aber wer als Principe geboren ist, findet sich nicht leicht in die Niedrigkeit Eures Standes, Concetta. Das Blut meiner Väter in mir reißt mich beständig zur Höhe.«<lb/>Concetta öffnete die Lippen und schloß sie wieder in Furcht. Dann aber ihren Mut zusammenraffend, sagte sie leise: »Wenn das Blut in dir so sehr nach der Höhe verlangt, warum — warum lässest du nicht die niedere Tochter des Führers Peroni dem Antonio, der ihres Standes ist?«<lb/>Wie ein Rasender fuhr Luigi herum. — »Marietta dem Antonio lassen?! — Wißt, wenn mein Vater, der Principe, hier stände, um mich auf sein Schloß mitzunehmen als seinen Sohn und Erben — nicht ohne Marietta würd‘ ich ihm folgen. Da ist nichts auf der Welt, das ich nur halb so viel begehre wie sie! — Macht mich nicht wild mit Eurem törichten Gerede! — Aber freilich, Ihr wißt‘s ja nicht, wie es das Herz zerreißt und das Hirn verrückt macht, einen Menschen liebzuhaben über alles auf Erden und ihm nicht mehr zu sein als der Staub am Weg. Das wißt Ihr nicht!«<lb/>Mit einer verächtlichen Gebärde stürzte er an ihr vorüber in seine Kammer.<lb/>Concetta starrte ihn mit brennenden Augen nach. »Weiß ich‘s nicht?« murmelten ihre bebenden Lippen, während sie mit den mageren Fingern die Spargroschen zusammenstrich, die Luigi vor sie hingeschüttet hatte und sie sorgfältig auf ihrer Brust verwahrte. »Weiß ich‘s nicht?«<lb/>Die Nacht schwand, die Sterne verblichen über denen, die in erquickendem Schlummer lagen — und über denen auch, die wie Antonio mit wachen Augen verzweifelt zu ihnen emporstarrten.<lb/>Der Sinn war ihm wirr wie nach dem Erdstoß in Messina — nein, noch wirrer. Wieder war unter ihm der Boden zusammengebrochen, auf dem er fest zu stehen meinte. Aber während damals mit dem wiedererwachenden Bewußtsein heiße Daseinsfreude ihn überflutete, der Hoffnungsrausch des vom offenen Grabe Heimkehrenden, den alle Reize des Lebens mit nie gekannter Lockung rufen, sah er jetzt all seine Wünsche und Hoffnungen in Scherben um sich liegen. Keine Zeit und kein guter Wille würden je die Bruchstücke wieder zusammenfügen. Und zum Schmerz gesellte sich der Grimm. Er, der sich überklug gedünkt hatte, um Geld und Gut und Lieb‘ gebracht von einer kleinen blödsinnigen Kugel in des neidischen Tölpels Luigi Vanutellis Hand! — Dann, in dem Maß wie die Nacht schwand, das Morgenlicht heller wurde, hob sich wieder sein Mut. Zu ungeheuerlich war sein Verlust, er konnte nicht daran glauben. Sein Geld und Gut — sei‘s darum. Geld und Gut geht von Hand zu Hand, kennt keinen Herrn und keine Treue. Aber eines Mädchenherzens Liebe läßt sich nicht verspielen, nicht verschenken. Marietta blieb sein.<lb/>Er wusch sich, er legte sein Festgewand an. Er wollte sich nicht verkriechen vor den Blicken der Menschen. Noch war er Antonio Cavaliero, der schönste und mutigste Bursch in Palestrina. Er wollte nicht fehlen beim Fest der Madonna.<lb/>Mit vollem Klang riefen die Kirchenglocken zur Frühmesse. Wie ein dunkelblaues Tuch lag der Himmel auf den Hausgiebeln der schmalen Gassen. Schon wurden die Teppiche über die Mauern und Balkone gehängt, um die Himmelskönigin zu ehren, wenn sie<lb/>in feierlicher Prozession vorbeigetragen wurde. Kleine Mädchen, Kränze von Veilchen und Narzissen in den dunklen Locken, füllten den Markt.<lb/>Antonio bürstete lange an seiner Jacke, und es wollte ihm nicht gelingen, den Knoten seines Halstuches anmutig zu schlingen. Nie zuvor hatte er sich besonders aufgeputzt Marietta zu Ehren. Er hatte nicht geworben um ihre Liebe. Heut warb er.<lb/>Die heilige Handlung hatte schon begonnen, als er in die Kirche trat. In der äußersten Ecke kniete er nieder. Der Leuchter aus Babylons Tempel breitete über ihn seine vier Marmorarme. An den kunstvoll gemeißelten Widderköpfen seines Fußes vorüber starrte Antonio auf Marietta. War sie eine andere geworden über Nacht? Oder hatte er sie nie zuvor recht gesehen? Wie sie zwischen den Blumen und brennenden Kerzen am Altar stand, vom langen weißen Schleier umwallt, die mandelförmigen Augen, die gestern in heißer irdischer Liebe ihn angestrahlt hatten, voll frommer Inbrunst zur Mutter der Gnaden erhoben, schien sie selbst ihm eine keusche, strenge Heilige, der die kleinen Kinderenglein dienten. Sein Selbstbewußtsein wurde klein, seine Sicherheit kroch in sich zusammen.<lb/>Nun setzte der Zug sich in Bewegung. Kinder in blauen uns rosenfarbenen Engelsgewändern streuten aus kleinen Körben Blumen auf den Weg. Dann kamen die Chorknaben mit den dampfenden Räuchergefäßen und der Fahne, die freudig im Sonnenschein wehte, hinter ihnen der Pfarrer und der Kaplan in feierlichem Ornat. Dann folgte das Bild der jungfräulichen Gottesmutter, ohne den Knaben, das weiße Gewand von blauer Seidenschärpe gehalten, um die Schultern den blauen Königsmantel mit goldenen Sternen bestickt, und über der reinen Stirn, den Augen voll Leid und Güte, die Sternenkrone der Welt-<lb/>beherrscherin. Abwechselnd trugen vier schöne junge Burschen und vier makellose Jungfrauen von Palestrina den Thron der Heiligen. Ein Ehrengeleit von Jungfrauen und unschuldigen Kindern umgab sie. Danach schritten in langem Zug im Feiergewand die Männer und Frauen des Ortes, Rosenkränze in den Händen und mit hellen Stimmen das Lob Marias singend. Und Blumen und die Zweige des Ölbaums auf Wegen und Stegen. Der Duft, den sie von den Füßen der Waller zertreten aushauchten, hob sich mit dem der Räuchergefäße gemischt als eine Wolke von Wohlgeruch zwischen den schmalen hohen Hauswänden zum Himmel.<lb/>Mit rascher Bewegung war Antonio vorgetreten, als der Zug sich ordnete. Mit den anderen Burschen die Heilige tragen zu dürfen war sein Recht gewesen Jahr für Jahr. Doch als er nun vor der Himmelskönigin stand, geschah ihm Unerhörtes. Die Gottesmutter wandte die Augen von ihm! Ja, er sah‘s deutlich: streng, abweisend wandte sie ihren Blick!<lb/>Bis ins Herz erschreckend begriff er da zum erstenmal die Größe seiner Schuld. Die war nicht ein geringfügiges Vergehen, geboren aus dem Unbedacht der Jugend; gleich Kirchenschändung war seine Tat, ein Schlag ins Gesicht aller Frauenwürde, deren Hüterin die hehrste der Frauen ist. Nein, nimmer durfte der Himmelskönigin sich zu nahen wagen, wer eines Weibes heiligstes Gefühl auf den Spieltisch geworfen hatte wie eine gemeine Münze.<lb/>Da sanken ihm die Arme herab, seine Lider senkten sich tief über die Augen. Er sah nicht den Pfarrer, der wohlwollend ihn heranwinkte in die Schar der Träger. Von Scham vernichtet flüchtete er durch das Gewühl in einen Gassenwinkel, preßte, während der frohe Zug vorüberwallte, schluchzend seine Stirn gegen das feuchte Gestein.<lb/>Doch noch einmal hob die Hoffnung in ihm das Haupt, der Trotz eines mutigen Menschen, der nicht gewohnt ist, widrigem Schicksal zu weichen. Gab es nicht Bußen auch für schwerste Sünden? Fand nicht feurige Reue Vergebung im Himmel und auf Erden? — Er wollte büßen, demütig büßen. Aber er wollte sich nicht verbannen lassen aus der Heiligen, aus Mariettas Nähe!<lb/>Er lief der Prozession nach. Er holte sie ein. Als Letzter schritt er, betend mit einer Inbrunst wie er nie gebetet hatte. Und immer wieder suchte sein Blick Marietta. Er wählte seinen Platz beim Hochamt so, daß er ihr Gesicht sehen konnte. In Andacht starrte er auf dies schöne Gesicht. Nicht länger ein hübsches Mädchen, dessen Bewunderung er gern entgegennahm, eine von vielen, war ihm Marietta. Seit er ihr den brennenden Schimpf angetan hatte, wußte er, daß sie für ihn die einzige auf Erden war, sein Glück, sein Unglück, die, an der er selig werden oder zugrund gehen mußte. Oh, wenn sein Herz gestern für sie empfunden hätte, was es heute empfand, nimmer hätte er den schändlichen Einsatz bewilligen können, den Luigi ihm antrug!<lb/>Silbern klang das Glöckchen zur Verwandlung. In tiefer Bewegung sank Antonio mit den anderen auf die Knie. Ja, Irdisches wandelt sich zu Göttlichem durch den großen Schmerz, durch blutige Opfer. Durch Schuld und heiße Reue hatte seine oberflächliche Sinnenliebe sich zu einer ehrfürchtigen, ewigen Liebe des Herzens gewandelt.<lb/>Es war Brauch, daß am Marienfest jeder Bursch das Mädchen heimgeleitete, das er ehren wollte. Antonio stellte sich wartend an die Kirchentür, bis in der Schar ihrer Gespielinnen Marietta nahte, alle überstrahlend wie der Mond die Sterne. Aufglänzend<lb/>grüßten ihn ihre Augen. Er tauchte seine Fingerspitzen in das Weihwasser, um es ihr zu bieten.<lb/>Da fühlte er seine Schulter berührt, ein heißer Atem wehte ihm ums Ohr.<lb/>»Denk an deinen Eid! Du hast geschworen bei deiner Seele Seligkeit.«<lb/>Wie eine Sichel mähte der Anruf die neue Hoffnung in Antonios Herz nieder. Geschworene Eide löst auch die Himmelskönigin nicht. Keine Bußübung hat Macht, eines Mannes Wort zu zerbrechen.<lb/>Mariettas Hand zuckte leise seinen Fingern entgegen, die er für sie ins Weihwasser getaucht hatte. Aber er hielt den Arm an sich gepreßt und den Blick verschlossen. Starr wie die Säule, die das Gewölbe trug, stand er, sah den zärtlichen Glanz in ihren Augen erlöschen, sich wandeln in Staunen, in Schmerz. Sie ging vorüber, langsam, zögernd, nicht begreifend. Da bot Luigi Vanutelli ihr das heilige Naß. Da nahm sie‘s von ihm. An seiner Seite schritt sie aus dem Portal, an seiner Seite die Straße hinauf. Sie wandte den Kopf nicht mehr zurück. Antonio stand, bis der Letzte vorübergegangen war, bis der Sakristan die Kerzen löschte. Da warf er mit heiserem Schrei die Arme über seinen Kopf empor und rannte in sein Haus, sich zu verbergen vor dem Tageslicht. Es war aus. Aus für immer. Eid und Mannesehre schieden ihn von dem Mädchen, das ihm notwendig war wie der Sonne Licht.<lb/>Die Ellenbogen auf den Knien, das Haupt in den Händen saß er Stunde um Stunde, während Palestrina sich zum Festmahl setzte, während die frohe Jugend hinauszog aus den Toren, um in der Pracht des jungen Jahres an frohen Spielen sich zu ergötzen. Väter und Mütter folgten ihnen. Selbst die Greise und Greisinnen am Stab humpelten hinterdrein, die Lust zu schauen. Fast der einzige Lebendige im Mauergürtel<lb/>war Antonio. Umsonst schrien hungrig seine Maultiere. Er gab ihnen kein Futter, so wenig wie er selbst Speise zu sich nahm. Er schirrte sie auch nicht an, um zur Bahn zu fahren. Mochte wer wollte die Post versorgen.<lb/>Die Schatten wurden länger. Verwundert über die ungewohnte Stille schlich Chechino zu seinem langjährigen Freund herein, saß reglos dem Reglosen gegenüber, die gelben Funkelaugen in stiller Billigung auf ihn geheftet. Viel zu toll hasteten dem Würdevollen die Menschen. Hier fand er endlich einen Weisen, der statt seiner Glieder die Gedanken laufen ließ, die keine Müdigkeit kennen und nie außer Atem geraten.<lb/>Die ersten Sterne begannen zu flimmern. Da tat die Tür sich weiter auf. Auf ihren Stock gestützt kam Marzella Falconi über die Schwelle, die runzlige Alte, die für das junge Volk von Palestrina heimliche Grüße hin und wieder trug.<lb/>»Hab‘ Botschaft für Euch, Antonio Cavaliero.«<lb/>Er antwortete nicht.<lb/>»Mit einer Frage schickt eine mich zu Euch.«<lb/>Da hob er die Augen.<lb/>»Ob Antonio krank sei, so heißt Marietta Peroni mich fragen.«<lb/>»Ihr seht, ich bin gesund.«<lb/>»So soll ich weiter fragen, aus was für Ursach Antonio Fest und Spiel meidet? Aus was für Ursach er Marietta meidet? — Hat sie unwissentlich ihn gekränkt? Oder ist seine Liebe gestorben, hat sein Sinn sich von ihr gewendet, daß er ihr nicht Wort noch Blick gönnen mag?«<lb/>Da stand Antonio auf. Die Stunde war gekommen, die Rechnung zu bezahlen für unsühnbaren Frevel. Mit der Härte der Verzweiflung sprach er:<lb/>»Sagt der Marietta Peroni: Nie wieder wird Antonio Cavaliero Liebeswort noch Blick mit ihr tau-<lb/>schen, nie wieder die Tarantella mit ihr tanzen, noch auch nur die Spitzen ihrer Finger berühren. Wohl leichter kommen die Sabiner- und Albanerberge zusammen, als im Leben sie und er. Nach der Ursach soll sie nicht fragen, soll sie niemals fragen! — Sie soll denken, Antonio Cavaliero sei gestorben. Und wahrlich! nicht oft mehr wird sein Anblick sie kränken.«<lb/>Die Alte hatte die trüben Augen weit geöffnet und sah in des Burschen gramverzerrtes Gesicht.<lb/>»Du bist jung, Antonio. Jung Blut stürmt wild. Willst du deinem Mädchen das Herz entzweibrechen? Besinne dich. Gib mir milderen Bescheid.«<lb/>Aber Antonio schrie: »Was führst du mich in Versuchung?! — Wie ich dir gesagt hab‘, sollst du sprechen. Geh! Geh!«<lb/>Er schob sie aus der Tür.<lb/>Langsam folgte Chechino in tiefer Mißbilligung der Torheit seines menschlichen Freundes, der nach dem Weggang der Alten in Zuckungen auf dem Boden sich wand, das Haar sich raufte, die Stirn auf das Steinpflaster stieß. Und war doch kein Rival zu bekämpfen, keine Beute zu erjagen. Solch zweck- und würdeloser Kraftvergeudung ist einzig das Volk der Menschen fähig, urteilte der Kater. —<lb/>Auf dem grasbewachsenen Hang vor dem Tor standen Buden, in denen Makkaroni und Frutti di Mare verkauft wurden, sangen fahrende Straßensänger zur Gitarre, tanzte zum Klang der Kastagnetten junges lebensfrisches Volk die Tarantella. Unter einem altershohlen Ölbaum, ein wenig abseits, wartete Marietta auf die alte Marzella. Durch das Tor sah sie sie heranhumpeln — langsam, langsam. Und sie hob die Hand und winkte, als könne die Ungeduld, die sie bis in die Fingerspitzen durchlohte, den Schritt der Greisin beschleunigen.<lb/>»Wart Ihr bei ihm, Marzella? Habt Ihr ihn an-<lb/>getroffen? Was sagt er, gute Marzella? Was sagt Antonio?«<lb/>Die Alte schüttelte den Kopf. »Mein Herzblatt, mein Täubchen! Jugend ist eine Verrücktheit. Sie macht die Menschen reden ohne Sinn und Verstand. Der Antonio ist sehr jung. Ihr dürft Euch seine Antwort nicht zu Herzen nehmen.«<lb/>»Was sagt er? Oh, ihr Heiligen! was sagt er?«<lb/>»Was er nicht halten wird. Und darum möchte ich Euch lieber seine Botschaft gar nicht wiederholen.«<lb/>»Marzella!« Marietta faßte heftig das Handgelenk der Alten.<lb/>»Heilige Großmutter! Ihr seid so ungestüm wie er. Ja, ja, ich rede schon. Nur tragt mir die Botschaft nicht nach, indem Ihr mir den Botenlohn kürzet. So sprach der von den Heiligen Verlassene: Sagt der Marietta Peroni, nie wieder wird Antonio Cavaliero Liebeswort noch Blick mit ihr tauschen, nie wieder die Tarantella mit ihr tanzen, noch auch nur die Spitzen ihrer Finger berühren. Wohl leichter kommen die Sabiner- und Albanerberge zusammen als im Leben sie und er. Nach er Ursach soll sie nicht fragen, soll sie niemals fragen. Sie soll denken, Antonio Cavaliero sei gestorben. Und wahrlich! nicht oft mehr wird sein Anblick sie kränken. — Mein Herzenstäubchen, ich bitt‘ Euch, nehmt‘s Euch nicht zu Herzen.«<lb/>Marietta war beim Klang der furchtbaren Worte blaß geworden wie das weiße Kleid, das sie trug. Vor ihren Augen tanzten die grauen Leinwandbuben, die Mauern Palestrinas hoben und senkten sich.<lb/>»Ich versteh‘ nicht. Helft mir Marzella! Was kann er meinen?«<lb/>Die Greisin zuckte die Achseln. Soll die alte Marzella Euch ihre Gedanken sagen? Antonio ist nicht von der festen Art.«<lb/>»Nicht von der festen Art? — So sagt Vater.«<lb/>»Er hat Rom gesehen, er hat Neapel gesehen, Messina. Er hat den Beutel voll Geld und das Herz voll Hoffart. Palestrina ist ihm zu eng. Fort zieht es ihn in die weite Welt. Das sind der alten Marzella Gedanken, die viele jungen Burschen gekannt hat — viele junge Burschen. Grämt Euch nicht, Täubchen. Weint ihm nicht nach. Es leben bessere Männer, treuere! Wem die Heiligen so viel Liebreiz gegeben haben, so viel Schönheit —«<lb/>»Schweigt!« — Marietta riß aus ihrem Mieder ein rotseidenes Beutelchen und schüttete den Inhalt der Alten in die Hand. »Nehmt! Nehmt und schweigt!«<lb/>Marzella beugte sich und küßte inbrünstig Ärmel und Rock der Spenderin. »Alle Heiligen sollen Euch mit Glück überschütten; Marietta Peroni, wie Eure offene Hand verdient. Mein Liebling! mein Töchterchen! Wohl wird es Euch ergehen auf Erden, glaubt der alten Marzella.«<lb/>Marietta hörte nicht. Sie stand, die Hände auf ihr heftig klopfendes Herz gepreßt. Aus diesem blutenden, mißhandelten Herzen rang sich langsam, über Schreck und Verzweiflung mächtig ein Etwas empor, das Antonio gegenüber nie zuvor sich hervorgewagt hatte: der Stolz, die heilige Selbstachtung. Konnte Antonio durch einer Fremden Lippen ihr so furchtbare Worte künden lassen? Verdiente ihre treue und innige Liebe nichts Besseres, als daß er sie von sich abstreifte wie ein Baumblatt, das zufällig ihm auf die Schulter geweht war, und weiter schritt seinen Weg?<lb/>Da traf eine leise, demütige Stimme ihr Ohr. Vor ihren Augen schimmerte ein Strauß blauer Anemonen.<lb/>»Will die schönste der Ehrenjungfrauen der Madonna mir die Freude gönnen, diese Blumen aus meiner Hand zu nehmen?«<lb/>Mühsam besann sie sich.<lb/>»Guter Luigi Vanutelli, erfreut eine, die froheren Herzens ist. Mein Sinn ist der Freude verschlossen.«<lb/>Er warf sogleich die Blumen auf die Erde. »Wenn sie Euch nicht erfreuen, so haben sie keinen Zweck. Ihr wißt wohl, daß ich lieber Leid mit Euch trage, als Freude mit einer anderen.«<lb/>»Ihr seid gut, Luigi,« murmelte Marietta. »Ich dank‘ Euch. Wenn mein Wesen Euch manchmal gekränkt hat, wenn ich Eure Gesinnungen nicht erwidern konnte, wie sie es verdienten, tragt mir‘s nicht nach. Herzen können wie Augen blind sein.«<lb/>»Ach, wenn das Eure doch sehend werden wollte, schöne Marietta! Ihr habt wahrlich keinen treueren Freund als ich‘s Euch bin. Stellt mich auf die Probe. Da ist keine Tat so schwer, da ist keine Sünde so groß, für ein Lächeln von Euch würd‘ ich sie begehen. Schaudert nicht vor der Gewalt meiner Leidenschaft! Heißt mich nicht schweigen! Gott, der alle Dinge lenkt, hat auch dies Gefühl für Euch mir ins Herz gelegt. Duldet es um seinetwillen.«<lb/>Sie sah in seine Augen — schmale, tiefliegende Augen. Aber ein Strahl von Liebe leuchtete ihr daraus entgegen, dergleichen ihr aus Antonios stolzfrohen Augen nie geleuchtet hatte. Und der Schmerz schnitt wie ein Messer durch ihre Seele. Wieder begann Erd‘ und Himmel sich um sie zu drehen. Wenn sie doch begehrenswert war für eines warmblütigen Burschen Sehnsucht, warum verachtete Antonio sie?<lb/>»Marietta! Um aller Heiligen willen, was ist Euch?«<lb/>Während die Knie unter ihr wankten, erwog sie, wen sie rufen sollte, ihr beizustehen. Ihren Vater? — Der würde fragen und sie konnte nicht sprechen. Nein, nicht um ihr Leben zu retten konnte sie Antonios Worte wiederholen. Eine Gespielin? — Ach,<lb/>die hatten ihr alle seine Liebe geneidet. Oder die alte Marzella? — Nein, die nimmer. Sie ertrug den Klang der Stimme nicht, die ihrem Glück den Tod gekündet hatte. Sie klammerte sich an Luigi Vanutellis Arm.<lb/>»Ich bin krank. Guter Luigi, bring mich heim.«<lb/>Er legte stützend den Arm um sie. »Ich dank‘ Euch, Marietta.. Euer Vertrauen soll Euch nicht gereuen. Ich dränge nicht. Nicht den Saum Eurer Schärpe sollen meine Lippen berühren. Ich warte. Ich lieb‘ Euch so sehr, daß ich warten kann.«<lb/>Und langsam führte er sie durch das Stadttor, die enge, dunkle Via della Fontana hinauf, in deren Winkeln die Abendschatten lagen, an deren Seite der Bach zu Tal rauschte. Die Sterne zwinkerten in der schmalen Himmelsspalte über den beiden. Und Luigi sprach kein Wort und drückte des Mädchens Leib nicht fester an sich, leitete nur umsichtig ihre wankenden Schritte, daß ihr Fuß an keinen Stein stieß. Marietta aber empfand dankbar seine sorgende Zartheit. So verzagt fühlte sie sich, daß eines Hundes Zuneigung sie zu Tränen gerührt haben würde.<lb/>Vor ihrer Haustür gab Luigi sie frei. »Buona notte, Marietta. Denkt daran, daß einer Euch Treue hält in Ewigkeit.«<lb/>»Ja, Luigi, ich will daran denken.«<lb/>Sie glitt ins Haus, in ihre Kammer. Sie verkroch sich auf ihrem Lager und löschte das Licht. Der Vater sollte nicht zu ihr sprechen, wenn er heimkam, sollte sie nicht fragen. Die lange Nacht lag sie mit weit offenen Augen, die Seele hin und her gerissen zwischen Schmerz und Verzweiflung, Zorn und einem rachsüchtigen Haß, in den ihre heiße, junge Liebe sich verwandelt hatte. Oh, es geschähe Antonio schon recht, wenn sie ihn von sich abtäte, wie er sie von sich abgetan hatte, wenn sie sich dem schwarzen Masetto gäbe<lb/>oder Luigi Vanutelli. Das würde den Hochmütigen in seinem trotzigen Selbstbewußtsein kränken! — Ach, nein! — Sie rang die Hände und biß sich die Lippen blutig. Nur ihr selbst würde das weh tun, weh zum sterben. Ihn, ihn kümmerte es nicht. Er hatte sie ja verstoßen.<lb/>Blaß, gedankenlos besorgte sie am Morgen die Hausgeschäfte, verwundert nur, daß man weiterleben konnte nach solcher Erfahrung. Peroni, der zu Mittag von seinen Führergängen heimkehrte, brachte Neuigkeiten. Der junge Antonio Cavaliero war fort von Palestrina. Gestern während der Festfeier hatte er sich davongemacht, ohne von jemand Abschied zu nehmen. Der Nachbar, der das klägliche Schreien seiner Maultiere hörte, war in sein Haus gegangen. Da stand alles wild und wüst. Luigi Vanutelli hatte die Fahrpost übernommen, auch Antonios Tiere. Einige Burschen behaupteten, Antonio habe am Vorabend in einem heimtückischen Glücksspiel an Luigi viel Geld verloren. Jedenfalls hatte er das Haus nicht gekauft, in dem er wohnte, auch nicht die Oliveta des Martino Campez, sondern war fortgezogen, sein Glück anderswo zu suchen. Er, Peroni, hatte es ja immer gesagt, daß Antonio von der leichten Art sei.<lb/>Marietta erwiderte kein Wort. Während der Mahlzeit beobachtete der Führer besorgt sein Kind. Aber er versuchte nicht zu trösten. Wenn Marietta sich tapfer halten wollte, er würde sie nicht weich machen durch unzeitige Teilnahme. Nur als er fortging, strich er leise, fast scheu über ihr Haar.<lb/>»Die lieben Heiligen lenken unser Geschick immer zu unserem Besten, Kind. Den guten Glauben halt‘ fest.«<lb/>»Ja, Vater,« antwortete Marietta.<lb/>Am Nachmittag besuchten die jungen Dirnen von Palestrina ihre Gespielin. Sie wußten alle von Mariettas großer Liebe zu Antonio.<lb/>»Gräme dich nicht, Marietta,« sagten sie. »Man muß das Leben nehmen wie es ist.«<lb/>»Ich bete zu den Heiligen, daß ich es lernen möge,« erwiderte Marietta.<lb/>Am Abend, als die letzte Post herein kam, kam dann Luigi. Wieder brachte er einen Strauß blauer Anemonen. Und heute weigerte sich Marietta nicht, die Blumen anzunehmen.<lb/>Ihre tränenlose Gelassenheit ermutigte Luigis Verlangen, machte ihn tollkühn. Mit Siegerschritten stampfte er in Concettas kleines Haus.<lb/>»Nun, Mutter Concetta, hurtig! Legt mir mein Sonntagszeug zurecht. Die roten Rosen im Garten könnt Ihr mir schneiden. Und hört! der Vetter Schneider hat eine Gitarre. Mir würde er sie nicht geben. Geht Ihr zu ihm.«<lb/>»Mein Luigi, mein Liebling, soll ich dir nicht erst das Nachtmahl auf den Tisch stellen?«<lb/>»Nein! Geht in Gottes Namen. Und hört! kommt mir ohne die Gitarre nicht wieder.« —<lb/>Concetta brachte die Gitarre. Sie sagte nicht, wieviel Mühe es gekostet hatte, den Gevatter Schneider zu überreden.<lb/>»Mein Luigi, ich will zwei Rosenkränze für das Gelingen deiner Wünsche beten.«<lb/>Das Licht in dem kleinen Viereck von Mariettas Kammerfenster war erloschen. Sie wühlte den Kopf, der so schwer war von traurigen Gedanken, daß ihre Schultern ihn kaum mehr tragen konnten, verzweifelnd in das Kissen. Da klangen durch die tiefe Stille des schlafenden Palestrina und in das Rauschen des Sturzbaches hinein leise Gitarrentöne und fügten sich zu einem Lied, dem kleinen, süßen Lied, das Antonio ihr zu singen pflegte. Das Blut flutete ihr ins Herz, gepeitscht von einer Vorstellung von unausdenkbarer Wonne. Antonio! Er war heimgekehrt! Er hatte<lb/>sie nicht verraten, nicht verlassen! Er war da. Er rief sie. Sie flog aus dem Bett. Auf bloßen Sohlen lief sie zum Fenster, warf den Laden zurück — und wäre fast zu Boden gesunken. — Die Stimme, die jetzt einsetzte, war nicht Antonios Stimme. Und der auf dem Steinblock über dem Sprühschaum des abstürzenden Wassers hockte, war nicht er. In einem Mondstrahl, der sich in die Schlucht verirrte, erkannte sie das scharfe Profil, die schwarze Stirnlocke Luigi Vanutellis.<lb/>Und er saß auf demselben Stein, auf dem — wie oft! — Antonio gesessen hatte! hielt die Gitarre, wie Antonio sie gehalten hatte, und sang Antonios Lied. Eine wilde Wut stieg in ihr auf aus ihrer herben Enttäuschung. Nein, sie war keine, die das Leben nahm wie es war. Lieber es zerschlagen, als es sich verzerren lassen zur Fratze!<lb/>Sie riß den Fensterflügel auf, ihre ausgestreckte Hand winkte herrisch den Sänger heran.<lb/>Eilends kam Luigi, strahlend in seliger Erwartung.<lb/>Sie aber konnte nicht sogleich sprechen, gewürgt von der Gewalt ihres Empfindens.<lb/>Da haschte er nach ihrer Hand. »Teuerste Marietta —!«<lb/>Sie riß ihre Finger zurück.<lb/>»Liege ich denn ein herrenloses Gut im Straßenstaub, daß jeder Bube sich getraut, nach mir zu greifen?! Heute, heute schon?! — Im Namen aller Heiligen! geht fort von hier.«<lb/>»Was hab‘ ich getan, um Euren Zorn zu verdienen?«<lb/>Sie sprach zwischen den Zähnen: »Ihr sollt auf dem Platze nicht sitzen, auf dem Antonio gesessen hat. Ihr sollt das Lied nicht singen, das Antonio gesungen hat.«<lb/>»Wie?« fragte er. »Hat die tugendhafte Marietta so wenig Stolz, schätzt sie sich so gering, daß sie einem<lb/>Manne nachweint, der in den Armen einer anderen ihrer spottet?«<lb/>Sie schrie auf vor Schmerz. »Ja, ich bin unglücklich. Aber habt Ihr darum das Recht, unverschämt zu sein? — Klugheit wie Bescheidenheit sollten Euch hindern, Euch an dem Platz zu zeigen, an dem ich gewohnt war Antonio zu sehen.«<lb/>»Marietta, Grausame Marietta, hört mich an!« Bittend hob er den Strauß roter Rosen ihr entgegen. »Hier steht einer, der Euch Treue halten wird bis zur Todesstunde. Verachtet seine bescheidene Liebe nicht.«<lb/>Sie sah im Mondstrahl seine Augen zärtlich flimmern. Da stieg der Widerwille übergewaltig in ihr auf. Sie schlug den Fensterladen zu zwischen ihm und ihr und warf sich auf ihr Bett in wildem Schluchzen. Seit sie den anderen auf Antonios Platz gesehen hatte, wußte sie, daß Antonio ihr Herz gehörte für Zeit und Ewigkeit.<lb/>Als Luigi in seine Wohnung zurückkehrte, das Haupt gesenkt und schleppenden Schrittes, kniete Concetta noch, Gebete murmelnd, unter der ewigen Lampe vor dem Muttergottesbilde. Unwirsch fuhr er sie an.<lb/>»Was schafft Ihr um Mitternacht hier? Alte Leute gehören ins Bett.«<lb/>Die Spannung in ihren Zügen sank. Kein glücklicher Liebhaber war‘s, der ihr da heimkehrte.<lb/>»Sei nicht bös, Söhnchen, mein Liebling. Hab‘ zur Mutter der Schmerzen gebetet für dein Glück. Oh weh! stoße die Gitarre des Meisters Schneider nicht so rauh auf den Tisch. Sieh, der Lack ist abgesprungen. Der Vetter wird mich schelten.«<lb/>»Ihr sollt mich meine Wege allein gehen lassen, Concetta. Bin alt genug. Euer Wünschen und Beten bringt kein Glück. Euch hat‘s keins gebracht. Mir bringt‘s auch keins.«<lb/>Concetta zuckte zusammen. Er tat ihr sehr weh.<lb/>Wußte er‘s wohl, wie weh er ihr tat, alle Tage, alle Stunden?<lb/>Eine Weile herrschte Schweigen. Luigi hatte sich auf den Schemel vor dem Tisch geworfen, den Kopf in die Hand gestützt.<lb/>Da ging Concetta zu ihm und strich leise über seinen Ärmel.<lb/>»Ist sie dir hart begegnet, mein Luigi? sag‘. Die Grausame, die Verblendete! Geduld. Hab Geduld. Sie wird deinen Wert kennen lernen. Mein Liebling wird eine schöne Frau haben, eine Frau, die ihn liebt, wie er es verdient —«<lb/>In aufflammendem Zorn schüttelte Luigi die streichelnde Hand von sich ab.<lb/>»Bin ich ein Wochenkind, daß Ihr mein Leid einzulullen denkt mit Eurem Singsang?! Wenn Marietta Peroni nicht mein wird, so ist mir das Leben verleidet. Euer Altweibergeschwätz wird daran nichts ändern.«<lb/>Er lief in seine Kammer.<lb/>Concetta saß grübelnd. »Sie liebt den Antonio noch, versteht sich, versteht sich. Aber die alte Concetta löst wohl diese Liebe. Sei ruhig, Luigi, Armer. Wenn dein Leben an Marietta Peronis Besitz hängt, ich schaff‘ sie dir.«<lb/>Sobald in der Frühe Luigi mit den Maultieren davongegangen war, kämmte und flocht Concetta ihr Haar, hing das blaue Seidenband der keuschen Jungfrauen der Madonna um den Hals und ging zu Peronis Haus. Der Führer war schon im Dienst. Sie traf Marietta allein.<lb/>»Gesegnet sei dir der Tag, Marietta Peroni. Hast du ein Augenblickchen Zeit für die alte Concetta?«<lb/>Fast mit Furcht sah Marietta auf die Alte.<lb/>»Wenn Ihr kommt, um von Eures Luigi Liebe zu erzählen, so wollte ich, Ihr spartet Eure Worte, gute Concetta.«<lb/>»Bin nicht gekommen, um von Luigi zu reden, nicht ein Wort von ihm. Von Antonio Cavaliero wollt‘ ich erzählen. Dachte, daß dich vielleicht verlangen würde zu wissen, warum der schöne Antonio fortgezogen ist von Palestrina, fortgezogen von dir ohne Lebewohl.«<lb/>Marietta griff nach der Tischplatte. Sie fühlte ihre Knie wanken. »Was wißt denn Ihr davon?«<lb/>»Was diese Augen gesehen haben, was diese Ohren gehört haben, mein Täubchen. Willst du, daß ich es dir erzähle?«<lb/>Und da Marietta stumm vor Qual nickte, fuhr sie fort: »Am Vorabend des Festes der Mutter Gottes war‘s. Die Burschen spielten. Einer von ihnen hatte ein fremdartiges Spiel aufgelegt. Kam der Antonio. Du kennst ihn, wie er hitzig ist, wenn eine Lust ihn anwandelt. Er hatte die Taschen voll Geld, setzte — nicht wie die anderen ein paar Soldi — nein, gleich händeweise warf er die Lirescheine auf den Tisch. Ich hab‘s mit angesehen. Ich saß zwischen den Säulen im Hof des Seminars. Der Kopf tut mir oft weh, und im Haus war‘s dumpfig. Der Antonio verlor — sein Haus, sein Geld, seine Maulesel, alles. Ei, sagt‘ er da, hab‘ ich kein Geld mehr, so setz‘ ich die Marietta Peroni. Die ist auch mein.«<lb/>»Du lügst!« schrie Marietta auf. »So hat er nicht gesagt.«<lb/>»Er hat‘s gesagt. Der andre Bursch — er muß wohl viel von dir halten — antwortet: ,Wohl, da steht dein Geld, deine Maulesel. Alles was du verloren hast, setz‘ ich gegen Marietta Peroni. Denn mehr als all das ist sie mir wert.‘ Der Antonio hat dann verloren.«<lb/>Marietta saß in sich zusammengesunken. Mit jedem Wort der Alten stieg der Jammer in ihrem Herzen.<lb/>Als Concetta verstummte, sprach sie mühsam: »Ihr habt noch vergessen, mir zu sagen, wer der andere Bursch war.«<lb/>»Ja, wenn du danach fragst, Kindchen! Ich wollte dir seinen Namen nicht nennen. Aber was hülfe es auch, ihn dir zu verschweigen? Daß mein Luigi es ist, dem du mehr giltst als die ganze übrige Welt, weißt du ja längst.«<lb/>Marietta stand schwerfällig auf und winkte müde mit der Hand.<lb/>»Laßt mich allein, Concetta! Ich bitt‘ Euch, laßt mich allein!«<lb/>»Ja, mein Täubchen, mein Engelchen, ja, ich geh‘. Und sei mir nicht gram, wenn dir nicht gefallen hat, was ich sprach. Oft macht ein bitteres Kraut gesund.«<lb/>Marietta wartete, bis die blaue Schleife des Ordensbandes auf Concettas Nacken hinter der Straßenbiegung verschwunden war. Dann ging sie schwankenden Schrittes um das Haus, zu dem jähen Mauerabsturz vor ihrem Kammerfenster. Entweiht, besudelt fühlte sie jeden Fleck ihres Leibes, jede Regung ihres Herzens. Nur ein Verlangen war in ihr. Auslöschen, vernichten den brennenden Schimpf, auslöschen sich selbst in den brausenden Wassern drunten. Doch als sie auf dem Fleck stand, auf dem Antonio so oft gestanden hatte, war‘s ihr, als sähe sie ihn leibhaftig vor sich, sein froh leichtsinnig Gesicht, die Augen voll Schelmerei und Lebensfreude und ehrlicher Güte für alles Lebendige. Und aus der Tiefe ihres Jammers rang sich erlösend die Gewißheit empor: nicht Antonio hatte höhnisch und gemein ihre heilige Liebe ausgeboten wie eine Ware! Unbedacht war er und hitzig, und wo ein Verlangen ihn ergriff, sah er nur das eine, was ihn reizte. Er liebte sie auch nicht so, wie sie ihn liebte. Sein Empfinden zersplitterte sich an zu viele, als daß er für eine einzige sehr warm hätte<lb/>fühlen können. Doch so gemeine Tat war seinem Willen nicht entsprungen. Die hatte ein anderer ihm aufgedrängt, seine schwache Stunde benutzend. Luigi hatte das Bubenstück ersonnen, nicht Antonio! In dessen Augen hatte die höchste Qual eines Menschenherzens gebrannt am Madonnenfeste. Reue und Verzweiflung trieben ihn aus der Heimat — vielleicht in den Tod. — Aber Luigi sollte die Frucht seiner Heimtücke nicht schmecken! Hatte er Antonio von ihr geschieden für immer, so sollte ein heiliger Schwur sie scheiden von jedem anderen Manne. Dem Heiland würde sie ihr mißhandeltes, blutendes Herz darbringen, die Pforte des Klosters zuschlagen zwischen der schändlichen Welt und sich.<lb/>Am Abend kam Luigi trotz des Auftritts der vergangenen Nacht. Hartnäckig strebte er seinem Ziel zu, ein wenig vorsichtiger, ein wenig bedächtiger als zuvor, aber hartnäckig zum Ziel.<lb/>Da flog sie ihm entgegen. Da warf sie ihm ihren Haß, ihre Verachtung ins Gesicht mit der wilden Rachsucht einer um ihr Leben Betrogenen, mit der Empörung des Opfers gegen seinen Verderber. Sie zügelte ihr Empfinden nicht, den Abscheu, den — sagte sie — Gott selbst ihr gegen Vanutelli ins Herz gelegt hatte. Was leidenschaftliche Erbitterung Kränkendes, Erniedrigendes aussinnen kann, das sagte sie ihm, während sie ihn für immer von ihrer Schwelle und aus ihrem Leben fortwies.<lb/>Luigi schäumte, rasend, daß sein harter Wille auf einen Widerstand stieß, der härter war als er, bis ins Herz gekränkt von den Vorwürfen der Dirne, deren Übermaß er als eine neue ungeheure Ungerechtigkeit des Schicksals empfand, das seit seiner Geburt ihn, den Sproß aus fürstlichem Stamm, heimtückisch verfolgte. Und mitten in seiner Raserei fühlte er ein dumpfes Staunen in seinem schwer denkenden Hirn.<lb/>Woher wußte Marietta den Sachverhalt? Wer konnte ihn ihr verraten haben?<lb/>Heimkehrend sah er Concettas Augen in banger Sorge auf sich gerichtet, schuldbewußt schien es ihm. Und in jäher Ahnung tagte ihm das Verständnis.<lb/>Concetta schrie auf bei seinem Anblick. »Mein Luigi! Um der Madonna willen! was ist dir geschehen?«<lb/>»Du hast es ihr gesagt!« schrie er. »Du! Lüge nicht!«.<lb/>Concetta sank in sich zusammen. »Ich dachte es gutzumachen, Luigi. Und gut wird‘s auch werden. Gewiß gut! Mußt nur Geduld haben —«<lb/>Da ergoß sich die Wut, die ohne Ausweg in ihm gekocht hatte, auf die Greisin.<lb/>»Verwünschte Spinne! die mir über jede Blüte meines Lebens kriecht! Ist das der Dank dafür, daß ich für Euch gearbeitet habe, als wäre ich Eures gemeinen Blutes?! — Aber dies war das letzte!«<lb/>Er stürzte auf sie zu, die Hand gehoben zu wuchtigem Schlag. Da kreischte sie auf wie ein zu Tod getroffenes Tier.<lb/>»Nicht schlagen! — Um aller Heiligen willen! Du darfst nicht! Nicht! Um Gottes Barmherzigkeit willen!«<lb/>Solch ein Entsetzen war in ihrer Stimme, ihrem Blick, daß sein Arm erstarrt in der Luft hängen blieb. Im Spiegelchen gegenüber sah er, hell vom Lampenlicht beschienen, ihr und sein Gesicht dicht beieinander, wie ein Bild in einem Rahmen, sah ihre Hakennase, die zum Kinn sich niederbog, und seinen eigenen hageren Nasenrücken über fast lippenlosem Mund und um zwei schmale tiefliegende Augenpaare in dieser Minute höchster Leidenschaft fast die gleichen Linien eingegraben, denselben Ausdruck von Spannung, ja, dieselbe wunderliche Biegung der linken Augenbraue nach aufwärts.<lb/>Eiskalt zog die Ahnung der Wahrheit durch seine Seele, ihn erschütternd wie der Axtschlag, der den Baum an seiner Wurzel trifft.<lb/>»Warum darf ich dich nicht schlagen?« murmelte er tonlos.<lb/>Sie haschte nach seiner Hand, die kraftlos in ihrem Griff lag.<lb/>»Weil — weil du von Herzen gut bist, mein Luigi. Weil du weißt, daß niemand es so treu mit dir meint als die alte Concetta.«<lb/>Er unterbrach. »Besinnt Ihr Euch noch immer nicht auf die Namen des Principes, meines Vaters, und der Principessa, meiner Mutter?«<lb/>»Ich weiß sie nicht. Was fragst du mich jetzt danach?«<lb/>»Weil es nur ein Weib auf der Welt gibt, das ich nicht schlagen dürfte. — Seid Ihr das?«<lb/>Ihr Blick glitt angstvoll zu Boden. »Ich versteh‘ dich nicht, mein Luigi.«<lb/>»Seid Ihr‘s?«<lb/>Unbarmherzig traf die Frage ihr Ohr. Sie fühlte, daß sie ihm heute die Antwort nicht würde weigern können. Da schlug sie die Hände vor das Gesicht, warf sich schluchzend auf die Knie. »Vergib mir.«<lb/>Luigi setzte sich schwer auf einen Stuhl. »Warum habt Ihr mich denn belogen, seit ich auf der Welt bin?«<lb/>Die Grundsteine, auf denen sein Leben stand, zerbrachen unter ihm, seine Liebe und sein Stolz, der Stolz auf seine vornehme Abkunft, der ihn aufrecht erhalten hatte in einem Leben voll Enttäuschungen und Zurücksetzungen, der geheime Triumph, sich ein Besserer zu fühlen als seinesgleichen, ein Besserer als die, die an ihm vorüber aufwärts stiegen. Für alle Entbehrungen war der Gedanke an sein adlig Blut ihm Trost und Entschädigung gewesen, er war die Stütze, an der sein Selbstbewußstsein sich aufrecht erhielt, nun<lb/>erwies er sich als Trug und Wahn. Keines Fürsten Sohn — einer niederen Bäuerin vaterloses Kind war er.<lb/>Auf dem Estrich kroch Concetta zu ihm heran, umfaße seine Knie.<lb/>»Vergib mir! Vergib mir, mein Luigi! Wenn ich gesündigt hab‘ — ich hab‘ dafür gebüßt. Oh, wie hast du mich gestraft Tag für Tag durch deine Härte, deine Kälte gegen mich! Und doch hat keine Mutter auf Erden je ihren Sohn liebgehabt wie ich dich. Der Principe und die Principessa, wenn sie deine Eltern wären, hätten zusammen dich nicht mehr lieben können als die arme Concetta. Vergib mir, Luigi.«<lb/>Er hatte den Kopf an die Wand zurückgelehnt. Seine Augen sahen über sie weg ins Leere.<lb/>»Es laufen viele meinesgleichen in der Welt herum. Aber sie wissen wenigstens, wer sie sind. Man spinnt sie nicht in Märchen ein. Man leidet‘s nicht, daß sie sich in Würden träumen, die ihnen nicht gebühren. Man macht sie nicht zum Spott und Hohn vor sich selbst! — Warum habt Ihr mir all das getan?«<lb/>»Aus Scham, aus Stolz! Hasse mich nicht, Luigi! Ich ertrug‘s nicht, aus Neapel heimzukehren als eine Betrogene, Verlassene. Ich ertrug‘s nicht, mir das blaue Band des Ordens der Madonna fortnehmen zu lassen, unter der Geringschätzung der Leute von Palestrina mein armes Leben zu leben. Da erfand ich die Geschichte von dem Principe und seiner Gemahlin. Und sie gefiel dir, mein Luigi. Oh, wie sie dir gefiel! Denn du bist stolz wie alle Vanutelli. Du konntest auf den Füßchen kaum stehen, als du wieder und wieder und wieder nach dem Principe, deinem Vater, fragtest. Ich war so arm, hatte so wenig dir zu geben, was dich freute. Da gab ich dir den Traum, Weil ich dich lieb hatte, gab ich ihn dir. Hasse mich nicht darum.«<lb/>Ein rauhes, trauriges Auflachen kam über seine Lippen.<lb/>»Steht auf, Mutter. Geschehen ist geschehen. Ich kann nicht gemeines Blut zu adligem machen. Aber der Besitz eines Weibes von Fleisch und Bein, das er begehrt, mag ein Mann sich wohl verschaffen, wenn er das Mark dazu hat. Und ich will Marietta Peroni besitzen — oder zur Hölle fahren!«<lb/>»Verschwöre deine arme Seele nicht! — Hör‘ ihn nicht, Mutter der Gnaden! Mein Luigi, wenn ich‘s dir mit meinem Leben erkaufen könnte, dein Glück, mein altes Leben acht‘ ich für nichts. Befiehl mir. Alles, alles will ich tun. Nur hasse deine arme Mutter nicht.«<lb/>Luigi war aufgestanden. »Ich bin nicht so verworfen, daß ich die hasse, die mir das Leben gegeben hat. Aber ein für allemal, laßt mich meinen Weg allein gehen, Concet— Mutter. Ich bin ein Mann. Mischt Euch nicht in meine Angelegenheiten. Eure Hand bringt kein Glück. Laßt sie aus dem Spiel.«<lb/>Concetta senkte den Kopf. »Wie du willst. Wie du willst. Ich gehorche dir. Ich gehorche.«<lb/>Heiß verlangte es sie, ihn an ihr Herz zu ziehen, ihn zu küssen, wie sie ihn nicht mehr zu küssen gewagt hatte, seit sie mit dem Märchen seiner fürstlichen Herkunft seinen frühreifen Stolz gefüttert hatte. Aber er wandte nicht den Kopf nach ihr. Da fand sie nicht den Mut. Sie gedachte eines anderen Tages vor vielen Jahren, da sie vor einem anderen Manne so gestanden hatte, um Liebe bettelnd, um Barmherzigkeit in ihrem Unglück. Auch der hatte sich stumm von ihr gewandt, fast mit derselben Bewegung des Überdrusses.<lb/>»Wie sein Vater,« murmelte sie, »hart wie sein Vater.«<lb/>Aber wenn sie mühsam den Vater verschmerzt hatte, von dem Sohne würde ihr Herz nicht lassen, solange es schlug.<lb/>Er ist unerfahren, er ist ungeschickt, der Arme,<lb/>dachte sie. Ich will achtgeben, was er vornimmt. Auch gegen seinen Willen werde ich ihm beistehen.<lb/>Sie begann damit, daß sie der Mutter Gottes zwei schöne Kerzen gelobte für den Tag, an dem ihr Luigi Marietta Peroni freien würde.<lb/>Luigi aber ging zu Francesco Peroni, sobald der nächste Morgen graute. Marietta hatte ihn abgewiesen. Aber es sind die Väter, die ihre Töchter dem Gatten geben.<lb/>Auf der Türschwelle von Peronis Haus saß Chechino, reglos wie aus Stein gehauen. Luigi haßte den Kater. Immer kreuzte er seinen Weg, wenn Unheil auf ihn wartete. Auch an jenem Abend war er auf den Roulettetisch gesprungen, als Luigi den Schwur Antonio ablistete, der ihm Marietta geben sollte und der doch nur bewirkt hatte, daß ihre Gleichgültigkeit gegen ihn sich in Haß verkehrte. Heftig trat er mit dem Fuß nach dem Tier. Chechino kreischte auf und fauchte mit krummem Buckel. Dann wandelte er fürbaß, langsam, gelassen, nicht in würdeloser Flucht. Mit einem rätselhaften Ausdruck in den Funkelaugen sah er zurück nach dem Feind. Sicher, das Vieh hatte den böse Blick. Luigi bekreuzte sich, bevor er die Schwelle überschritt.<lb/>Peroni saß allein vor einer Schüssel Polenta. Er erhob sich nicht zum Gruß.<lb/>Luigi stellte sich an die andere Seite des Tisches und drehte seine Mütze in der Hand.<lb/>»Ich höre, Peroni, Eure Marietta will geistlich werden.«<lb/>»Da habt Ihr recht gehört.«<lb/>»Würdet Ihr Euer einziges Kind nicht lieber einem braven Burschen zur Frau geben?«<lb/>»Die im Himmel richten die Dinge nicht immer nach unseren Wünschen ein,« antwortete Peroni.<lb/>»Diesmal tun sie‘s. Hier steht einer, der Eure<lb/>Marietta zur Frau begehrt und der sie wahrlich hüten würde wie seinen Augapfel. Ich, Luigi Vanutelli. Gebt sie mir.«<lb/>»Warum sollte ich sie Euch geben?« fragte Peroni ruhig. Sein in die Ferne gerichteter Blick erinnerte Luigi an Chechinos geheimnisvolle Augen. Das Blut stieg ihm bis in die Stirn.<lb/>»Wenn Ihr sie dem Antonio, dem Leichtsinnigen, geben wolltet, so könnt Ihr sie doch, bei allen Heiligen! mit größerem Rechte mir geben. Ihr kennt mich von Kindheit auf, Peroni. Ihr wißt, daß Verlaß auf mich ist. Und was ihre Zuneigung anlangt, da sorgt Euch nicht. Ist sie erst mein, so wird sie mich auch liebhaben. Ich steh‘ Euch dafür.«<lb/>Peroni schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich mein Kind zwingen, Euch zu freien? Ihr seid nur ein armer Bursch, Luigi Vanutelli, der meiner Marietta kein besonderes Glückslos zu bieten hat. Warum sollte ich sie denn zwingen?«<lb/>»Also, wenn ich ein reicher Herr wäre, würdet Ihr sie mir geben auch gegen ihren Willen?«<lb/>»Es nützt nichts, darüber zu streiten, was ich tun würde, wenn Ihr ein reicher Herr wäret, Luigi. Ihr seid‘s nicht und es hat nicht den Anschein, daß Ihr es jemals werdet.«<lb/>Luigi rannte aus Peronis Haus und die engen Gassen entlang und wußte nicht, wohin sein Fuß trat vor Grimm und Erbitterung. Als er die Porta del Sole erreichte, streifte er eine lange Gestalt in kariertem Reiserock und schottischer Mütze. Aufwachend blieb er stehen. Der Engländer! War der noch immer in Palestrina?<lb/>Zwei Sekunden lang tauchten die Blicke der schwarzen und der blauen Augen in scharfem Forschen ineinander. »Worauf warten Sie denn noch?« stieß Luigi dann hervor.<lb/>»Ich warte,« antwortete der Engländer, »ob Sie noch immer nicht wollen verdienen zehntausend Lire?«<lb/>Luigi öffnete die Lippen und schloß sie wieder. Wie ein Gießbach stürzten die Gedanken auf ihn ein. Wenn er ein reicher Mann wäre, würde Francesco Peroni ihm seine Tochter geben auch gegen ihren Willen.<lb/>»Heut um Mitternacht im Bogen des Leuchtfeuer,« stammelte er und meinte, daß kein Menschenohr die kaum hörbar gezischten Worte hätte verstehen können. Aber der Fremde nickte. »All right.«<lb/>Antonio war blind aus seinem Haus weggestürmt, nachdem die alte Marzella Falconi ihn verlassen hatte. Die ihn planvoll vorbedachter Flucht beschuldigten, taten ihm zu nah. Ohne Ziel irrte er durch die Felsklüfte der Sabinerberge, getrieben von der Verzweiflung seiner Seele, von dem brennenden Schamgefühl, das ihn drängte, seine Narrheit und sein Unglück zu verbergen vor jedem Menschenauge. Als der erste Sonnenstrahl am Horizont aufzuckte, verkroch er sich in eine Schlucht, lag in schlafähnlicher Betäubung fast ohne Gedanken, ohne Empfinden die langen Tagesstunden weg. Der Hunger trieb ihn gegen Abend auf. Von einem Hirten erbettelte er ein Stück Brot und rannte weiter. Aber es trieb ihn im Kreis. Er kam nicht fort von dem Fleck, wo sein verratenes, mißhandeltes Lieb atmete. Als der Mond aufging, fand er sich in den Ruinen des Castello San Pietro auf dem Felsgrat oberhalb Palestrinas. Der Meeresstreifen blitzte silbern zu ihm auf, wie am Vorabend des Madonnenfestes, da er in der Fülle seines Glückes auf der Terrasse der Trattoria ihn schaute durch die jungen Blätter des Weinstockes, das Herz zum Springen voll von Liebe und Hoffnung. Auf das helle Viereck jener Terrasse sah er jetzt hinunter, auf die engen gewundenen Gassen, die wie schwarze Spalten gähnten. Er sah den Riesenbaum im Garten der Villa<lb/>des Principe. Winzig, wie Häuschen aus einer Spielschachtel und eng aufeinander gepackt standen die Bauten seiner Heimat. Und er saß auf den Quadern der Zyklopenmauer, stumpf schauend Stunde um Stunde.<lb/>Er meinte das Rauschen des fernen, fernen Meeres zu hören, das Wachsen des jungen Grases um ihn her. Er meinte Mariettas Stimme zu hören in der tiefen, tiefen Stille. All die lieben Worte, die sie am Vorabend des Madonnenfestes zu ihm gesprochen hatte, Worte, schwer von dem Heiligsten, das ein Weib zu geben hat. Sicher hatte er sie nicht recht vernommen an jenem Abend, weil noch das laute Leben mit seinen tausend Hoffnungen und Wünschen um ihn brandete, das Leben, in dem er ein Herrschender sein wollte, einer, den Fortuna liebte. Da mußte man die Augen offen halten, hinhorchen nach allen Seiten. So geschah es, daß man das Köstlichste überhörte, was das Leben überhaupt zu sprechen hatte. Jetzt, da Menschen und Dinge um ihn schwiegen, da alles von ihm abgefallen war, was er besessen und erstrebt hatte, hörte er deutlich die Stimme seines Herzens. Er hätte zu Marietta beten mögen wie zu einer Heiligen in der Zerknirschung seiner Reue. Und sollte sie lassen für immer, weil er in einem Augenblick des Wahnsinns Unmögliches versprochen hatte!<lb/>Aus den Spalten des Gesteins neben ihm wuchs eine Blume, eine dunkelsamtne Skabiose. Ihr Braun erinnerte ihn an Mariettas Augen, und er streichelte mit der Hand die kleine Blume, während Tränen ihm über die Wangen rollten.<lb/>Der Vollmond stieg und stieg, die weite Ebene erfüllend mit seinem leuchtenden Nebelglanz, in dem alle Linien verschwammen. Antonio drückte sich tiefer in den Schatten der Mauerquadern und hielt den Stengel der kleinen Blume wie einen Trost umfaßt. In dem Maß wie seine todmüden Glieder sich stärkten<lb/>in der Rast, begannen auch seine zerstreuten, zerfahrenen Gedanken sich zu klären. Sein von der Geißel der Reue zerschlagener Wille richtete sich wieder auf. Marietta lassen! Unmöglich, solange das Blut warm durch seine Adern rollte. Aber da war sein Eid. Friedlos auf Erden und im Himmel ist der Eidbrecher. Er konnte die Schlinge nicht lösen, in der er sich gefangen hatte. Da dachte er an den Prete. Er stand nicht gut mit Hochwürden. Oft hatte der Geistliche ihn gescholten, ihn, den alle Menschen sonst verhätschelten, ihn eitel, ehrfürchtig und leichtfertig genannt, ihm mißtraut, wie Vater Peroni ihm mißtraute. Er würde sich heute demütigen vor dem strengen Mann. Der Prete würde ihm die Rettung finden. Es war sein Amt, verirrte Sünder auf den richtigen Weg zu führen. Da richtete die Hoffnung in Antonois Seele sich auf wie die Gräser im Nachttau um ihn her. Er küßte die samtne Skabiose. Die Hand um den Blumenstengel geschlossen schlief er ein.<lb/>Mit dem ersten Sonnenstrahl sprang er auf. Die kleine Blume hing welk herab. Er hatte sie im Schlaf zerdrückt. Er rannte nach Palestrina hinunter. Aus der Höhe sah er, wie Luigi seine Post zur Bahn fuhr. Es kümmerte ihn nicht. Sein Haus mochte verloren sein, seine Maultiere, sein Geld. Marietta sollte ihm bleiben. Er stahl sich durch das Tor, er erreichte ungesehen das Haus des Priesters. Ungestüm verlangte er gehört zu werden.<lb/>Der Geistliche erschrak bei seinem Anblick.<lb/>»Du kehrst zurück, Antonio? Was hat dich von uns getrieben? Was suchst du jetzt bei mir?«<lb/>»Nach dem heiligen Sakrament der Beichte verlangt mich, Hochwürden. Ich habe gesündigt. Einen Eid habe ich geschworen und kann ihn nicht halten. Rettet mich!«<lb/>Der Geistliche schüttelte den Kopf. »Ich will deine<lb/>Beichte hören. Gott gebe, daß ich dich lossprechen darf.«<lb/>Antonio kniete nieder wie im Beichtstuhl. Die Augen schlug er zu Boden. Er wagte nicht, dem Pfarrer ins Gesicht zu sehen. Hastig begann er den Auftritt an Luigis Spieltisch zu erzählen. Der Geistliche unterbrach ihn mit keinem Wort. Immer langsamer, immer stockender floß Antonios erst sich überstürzende Rede. Kaum hörbar war seine Stimme, als er von seinen Einsätzen sprach, von dem letzten, dem Einsatz eines lebendigen Menschenherzens, bekräftigt durch den schändlichen Eid. Scham drückte ihm die Stirn bis zur Erde.<lb/>Auch als er verstummte, schwieg der Geistliche noch. Da hob Antonio den Kopf. Er wollte Rettung.<lb/>Doch von keiner Rettung sprachen des Pfarrers strenge Züge.<lb/>»Hochwürden, ich geb‘ die Marietta dem Luigi nicht! — Nicht wahr, ich brauch‘s nicht? Wie kann einer denn schwören, daß eine Dirne ihn nicht mehr liebhaben soll? — Nicht wahr, solch ein Eid gilt nicht?«<lb/>»Eide gelten immer, Antonio.«<lb/>»Ich will Buße tun! Die schwerste Buße mögen Hochwürden mit auferlegen. Wenn ich wieder zu Vermögen komme, will ich der Mutter Gottes ein silbernes Herz stiften und eine Wachskerze von zehn Pfund. — Soll ich im Armensünderhemd auf der Kirchenschwelle liegen? Soll ich fasten und mich geißeln lassen, daß das Blut fließt? Ich will‘s tun. Das Schwerste will ich tun. Nur, Hochwürden, löst mich von dem Eid!«<lb/>»Ungewöhnlich schwere Buße wirst du tun müssen, Unglücklicher, denn schwer ist deine Sünde. Du hast eines lieben Kindes Glück vernichtet, keusche und treue Liebe verraten und beschimpft. Ich will mit dir beten, daß Gott dir diese Schuld vergebe. Von deinem Eid lösen kann ich dich nicht.«<lb/>»Aber ich war nicht bei Sinnen, Hochwürden! Er hat mich überlistet, betrogen, der Luigi!«<lb/>»So sprach das Weib zu Gott nach der ersten Sünde auf Erden: Die Schlange hat mich verführt.«<lb/>Antonio begann zu betteln. »Ich will mit den Pilgern nach Rom. Zum Heiligen Vater selber will ich wallen, will seinen Fuß küssen, ihn anflehen. Der Heilige Vater, Hochwürden, nicht wahr, der wird den Eid zerbrechen?«<lb/>»Jedes gute Werk wird deine Schuld vor dem Höchsten mildern, Antonio. Das aber wisse, von dem, was du vor Gott geschworen hast, löst auch der Heilige Vater dich nicht.«<lb/>Antonio taumelte aus dem Pfarrhaus und wußte kaum, wohin sein Fuß trat. Es riß ihn aber übermächtig die dunkle Via della Fontana hinauf, und auf den schmalen Mauersims über dem tobenden Sturzbach. Als er um die Ecke von Peronis Haus bog, sah er auf einem Felsblock über dem Strudel Marietta. Blaß, mit tiefen Schatten um die verweinten Augen saß sie, den Blick auf die gähnende Tiefe geheftet. Ihn zog‘s auf die Knie vor ihr in Jammer und Reue.<lb/>»Marietta! Wenn du wüßtest —!«<lb/>»Ich weiß, Antonio. Ich weiß jetzt.«<lb/>Ihm schlug das Blut wie eine Flamme ins Gesicht, er wußte nicht, ob vor Scham oder vor Glück, daß sie wenigstens sein Verhalten begriff.<lb/>»Marietta, ich bin ein Elender, ein Verworfener! Strafe mich! Heiß mich da hinunterspringen in den Abgrund, daß der Erdboden vor dir gereinigt werde von einem, wie ich bin. Ich tu‘s! Ich schwör‘s dir.«<lb/>Sie blickte ihn traurig an. »Armer Antonio, wie sollte ich dich noch strafen? Schwer genug hast du dich und mich gestraft, hast unser beider Glück zerbrochen für immer.«<lb/>Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihn. »Nicht deines, Marietta! Nicht deines! Sag‘, daß ich nicht deines auch zerbrochen hab‘.« Er drückte sein Gesicht in den Saum ihres Kleides. »Du weißt nicht, wie sehr ich dich liebe! trotzdem! trotzdem! Sieh mein zerfetztes Gewand. Meine Glieder haben kein Lager berührt, meine Lippen kaum Speis und Trank all die Tage. Ich hab‘ gebetet zur heiligen Mutter der Schmerzen, mir die Knie wund gekniet, stunden-, nächtelang! Zu Hochwürden bin ich gegangen, hab‘ gebettelt und gefleht. Eine Wallfahrt wollte ich tun, zum Heiligen Vater nach Rom, um mich zu lösen.«<lb/>Ein schwacher Strahl von Hoffnung brach aus Mariettas trüben Augen. »Hochwürden. — Was sagt Hochwürden?«<lb/>Mit einem Schrei sprang Antonio auf seine Füße. »Frag‘ nicht! — Aber wenn ich drum zur Hölle fahren muß, ich duld‘s nicht, daß du des Teufels Vanutelli Weib wirst!«<lb/>Das Leuchten in Mariettas Blick erlosch.<lb/>»Ich werde nicht Luigi Vanutellis Weib werden, Antonio, noch irgendeines Mannes. Mein Herz vermag nicht wie die Fahne auf dem Kirchdach dort sich zu kehren zu diesem oder jenem. In drei Tagen trete ich bei den Grauen Schwestern ein.«<lb/>Er prallte zurück, aschbleich im Gesicht. Fast wäre er hinterrücks in den Abgrund gestürzt. Unsagbare Qual, sie einem anderen Manne geben zu müssen, aber diese blühende, lebenstrotzende Jugend ausgelöscht zu sehen aus der Welt der Lebendigen, einem vorzeitigen Tod hinter Klostermauern verfallen durch seine Schuld, durch seine rohe Selbstsucht, das war so ungeheures Leid, daß es ihn zermalmte. Heiser, kaum verständlich war seine Stimme, als er endlich Atem fand.<lb/>»Geistlich werden — du! du! Nein, nein!« Die große Angst seines Herzens besiegte das Stärkste in<lb/>ihm, seine Eigenliebe, machte ihn zartsinnig, opferwillig. »Ich weiß nicht, wie ich‘s ertragen soll, dich mit einem anderen glücklich zu sehen, aber lieber als dich lebendig-tot im Kloster zu wissen — Marietta, lebe! lebe! — Du sollst leben!«<lb/>Ein schmerzliches Lächeln verzog ihre Lippen.<lb/>»Leb wohl, Antonio. Nein, fasse nicht meine Hand. Denk‘ an deinen Eid. Zu lange schon hast du zu mir gesprochen. Leb‘ wohl. Und sei gewiß, so oft ich bete, bete ich für dich.«<lb/>Sie wandte sich ins Haus, und solche Hoheit lag in ihrem Wesen, daß er nicht den Mut fand, ihr zu folgen. Stöhnend lehnte er am Abgrund, und Verzweiflung schlug wie ein Raubvogel die Krallen ihm ins Herz. Nicht genug, daß er das liebe Mädchen verloren hatte, die Reine, Makellose ging zugrund an seiner Schuld. Was tun? Was tun? Sein Herzblut, seine Seele würde er dem verschreiben, der ihm Hilfe schaffte! Mochte er doch verloren sein hier und drüben! Er hatte es nicht besser verdient. Aber Marietta sollte nicht lebendig sich begraben. Marietta sollte leben!<lb/>Er irrte an seinem Haus vorüber. Weit offen stand die Tür. Drinnen auf dem Hof sah er Luigi seine Maultiere tränken, und er floh vorbei. Schritte stampften über das Pflaster. Er rannte weiter. Nur keinem Menschen ins Auge sehen! Im dunklen Mauerwinkel eines geborstenen Turmes kauerte er in dumpfen Grübeln, bis die Nacht niedersank. Da begann er wieder zu wandern, er wußte nicht, warum noch wohin. Er hatte kein Heim mehr in der Heimat, keinen Besitz. Er konnte doch nicht fort. Vor den Häusern seiner einstigen Freunde stand er scheu. Er suchte den einen, der ihm hülfe.<lb/>Zwischen den Säulenstümpfen auf den geborstenen Trümmern des Vorhofes der Fortuna fand er sich wie-<lb/>der. Etwas Weiches, Warmes war unter seinen Fingern, weich wie Mariettas Flechten. Er erkannte Chechino. Da warf er das Haar aus der Stirn und schaute um sich. Über ihm flimmerten in weißem Licht wie die Kerzen auf dem Hochaltar zahllose Sterne, um ihn saßen mit leuchtenden Sternenaugen die Tempelkatzen, ernst und feierlich und schmiegsam doch und zärtlich, strichen um seine Knie und rieben sich an seinen Schultern, als hätten sie geheimnisvollen Trost ihm zu spenden.<lb/>Ein eigener Schauer durchrieselte ihn. Wenn Francesco Peroni die Wahrheit sprach, so hatten vor Tausenden von Jahren auf dieser selben Stelle, zu der er sein verzweifeltes Herz geflüchtet hatte, Hunderte und Tausende verzagender Menschen gestanden, zu den Sternen aufgeschaut wie er, in leidenschaftlicher Bitte sich die Knie wund gekniet wie er auf dem Marmorgestein, Glück fordernd von der großen Göttin Fortuna. Der Prete sagte zwar, die Göttin Fortuna sei tot. Aber wer konnte das gewiß wissen? Der Prete verkündete auch von hoher Kanzel, daß gestorbene Menschen lebendig bleiben in Ewigkeit. Warum sollten denn gestorbene Götter ganz tot sein? — Der Gott der Christen, seine Heiligen und die als seine Stellvertreter auf Erden lösten und banden, hatten keinen Rat und keine Hilfe für seine und Mariettas Not. Sollte er Hilfe bei der alten totgesagten Göttin suchen? — Er atmete schwer. Wahrscheinlich war‘s Sünde. Ja, der Prete würde es sicher Sünde schelten. Aber Hunderte und Tausende verzweifelter Menschen waren getröstet von dieser Stätte heimgezogen und hatten den Ruhm der Göttin Fortuna gepriesen mit beredten Lippen und reichen Opfern, so daß immer neue Gläubige zu den weißen Säulenhallen wallten. Waren all diese Narren und Wahnbefangene gewesen?<lb/>Dort hinter der zerbröckelten Mauer öffnete sich<lb/>die Grotte für die Schläfer in Fortunas Hut. Antonio kannte die Stelle wohl. Oft hatte der alte Peroni sie mit geheimnisvoller Ehrfurcht ihm gewiesen. Hier, hier auf dem zerbrochenen Mosaikpflaster, wo die Riesenkrebse die Scheren zum Kampf gegeneinander erhoben, hatten die Flehenden sich niedergestreckt zu prophetischem Schlaf. Hier hatte die Göttin ihnen in Traumbildern die Zukunft enthüllt. Mit raschem Entschluß glitt Antonio in den dunklen Mauerspalt und warf sich auf die taufeuchten Steine, die Stirn mit dem Boden berührend.<lb/>»Heilige Fortuna, rette sie! Muß ich verloren sein, so laß mich verloren sein. Aber rette Marietta!«<lb/>Und in einem guten Zutrauen streckte er sich zwischen die Säulenstümpfe. Er fühlte in langsam schwindendem Bewußtsein noch Chechinos weiches Fell, der ihm gefolgt war und zum Schlaf sich an ihn nestelte. Dann drückte Erschöpfung ihm die Lider zu.<lb/>Und er träumte.<lb/>Er träumte von Chechino. Groß und schwarz saß der Kater auf schmalem Grat, groß wie die Kirche von Palestrina, und seine Augen waren wie zwei Sonnen. Ganz reglos saß er. Er wartete. Dann kam Luigi. Deutlich sah Antonio die schwarze Haarflocke, die ihm in die beulige Stirn hing. Mit stampfenden Schritten kam er daher. Er keuchte schwer. Und etwas Weißes war um ihn, Antonio konnte es nicht erkennen. Waren‘s Engelsflügel? Er mußte es gefragt haben, denn Chechino lachte. Ja, der Kater lachte. Er sprach auch. Es klang schauerlich, wie wenn Glocken Sturm läuten und etwas vom Krachen des im Erdboden zusammenstürzenden Messina schallte auch dazwischen. »Auf solchen Flügeln fährt man zur Hölle, mein Bester.« Mit einem Schlag gab es ein wüstes Durcheinander. Chechino, der Berg, der Himmel, Luigi, das Weiße quirlten durcheinander, wie wenn Marietta Oster-<lb/>kuchen einrührte. Dann war der ganze Spuk verschwunden. Antonio sah nur ein Einziges: Luigi. Der lag ganz still am Boden. Und unter der schwarzen Haarflocke stand Blut. Aber es tropfte nicht mehr. Es stand still. Sein Mund war offen. Aus halbgeschlossenen Lidern blickten gebrochene Augen, Luigi war tot.<lb/>Da wachte er auf, gebadet in kalten Schweiß. Und das Entsetzen, das ihn geweckt hatte, dauerte fort. Er richtete sich auf, er versuchte sich zu besinnen. Etwas war in seiner Seele, das vordem nicht dort gewesen war, etwas Furchtbares, das preßte, das bohrte wie eine schwärende Wunde. Jetzt wußte er‘s. Luigi tot! Das war das Schwere in seinem Gemüt und das Lockende zugleich. Wenn Luigi tot war, dann war sein Eid gelöst. Der galt nur für die Dauer von Luigis Leben. Wenn Luigi tot war, dann brauchte die holde Marietta nicht an irdischem Glück zu verzagen. Dann war er nicht verdammt zu ewig unfruchtbarem Sehnen. Wenn Luigi Vanutelli tot war, dann durfte Antonio das Glück fassen. — So einfach war das und seinem Gemüt doch nimmer eingekommen. War‘s die Heidengöttin, die seinen Sinn darauf stieß, die Heidengöttin, zu er er, frevelnd an seinem Christenglauben, gebetet hatte? — Aber Luigi lebte, ein Bursch in der Vollkraft seiner Jahre, dem nach dem Lauf der Natur der Lebensfaden wohl noch reichlich bemessen war. So mußte man ihn töten. Mord? — Fremd klang das Wort in Antonios heiter-leichtsinnigem Gemüt wieder. So grimmig er seinen Verderber haßte, er schauderte davor. Nein, man würde ihn nicht morden. Man würde ihn stellen an einem Ort, wo sie allein waren, Antonio und Vanutelli. Da forderte man den Eid zurück. Und wenn er ihn nicht geben wollte, dann — ja, dann nahm man ihn sich. Er konnte sich ja wehren, der andere! Siegen würde er nicht! siegen gewiß nicht! Berührten Antonios Fäuste nur erst Fleisch und Bein<lb/>des Verhaßten, so würde die Empörung seine Kraft ins Ungemessene steigern. Bald würde er ihn vor sich sehen wie im Traum, mit dem Fleck von erstarrtem Blut auf der Stirn, mit gebrochenen Augen. — Nie in all diesen Tagen der Qual waren ihm solche Gedanken gekommen. Es mußte wohl die wilde Heidengöttin sein, die sie ihm einflößte. Aber wenn die Tat seiner Seele ewige Verdammnis brachte — Marietta würde gerettet sein. Was galten er und Luigi gegen sie?<lb/>Er trat zwischen die mondbeschienenen Säulenstümpfe hinaus. Noch war die Nacht nicht weit vorgeschritten. Ob er jetzt, jetzt gleich sich in Luigis Haus einschlich? Sicher war der Riegel nicht vorgeschoben. Er kannte den Weg zur Kammer. Wenn er vor den Schlafenden hinträte, seine verspielte Liebe zurückforderte — jetzt, jetzt gleich? — Aber die alte Concetta würde wach werden, schreien. Nicht vor ihren Augen konnte er‘s vollbringen. Er mußte warten. Seine Stunde kam.<lb/>Da hielt er den Atem an und duckte sich in den schwarzen Schlagschatten der Mauer. Ein kaum merkliches Regen war durch die Schar der Katzen gegangen. Die auf den Säulenstümpfen saßen, wandten um einige Linien die runden Eulenköpfe, ihre Ohren strafften sich, und ganz leise begannen die Spitzen der herabhängenden Schwänze den Marmor der Säulen zu schlagen. Etwas mußte sich rühren in der großen Stille des schlafenden Palestrina.<lb/>Und jetzt unterschied auch Antonio das leise Schlurfen seiner Schritte. Rasch kamen sie näher, scheue Schritte nackter Sohlen. Im hellen Mondlicht glitt‘s vorüber an der Mauerbresche, eine hagere Gestalt, schwarzes Haar, das tief in eine beulige Stirn fiel, ein scharfumrissenes Profil vor dem Mondglast — dasselbe Profil, das Antonio wenige Minuten zuvor im Traum gesehen hatte — nur ohne Todeswunde auf<lb/>der Stirn, nur mit glänzenden, lebendigen Augen. Ha! hilfreiche Göttin Fortuna! Sie zeigte den Weg und sogleich schuf sie die Gelegenheit!<lb/>Mit raschem Griff tastete Antonio nach dem Messer in seinem roten Gürtelschal, und sich über die niedere Mauer schwingend, rannte er dem Gegner nach. Der lief kleine dunkle Gassen hinauf und hinunter, und jetzt merkte Antonio die Richtung. Auf halber Bergeshöhe, von den hügelan steigenden Häuschen der Bürger von Palestrina gemieden, ragt einsam inmitten des Fleckens der Mauerbogen auf, in dem einst das Leuchtfeuer brannte, das die Priester der Fortuna den Schiffern auf dem Meer anzündeten. Wilde Befriedigung war in Antonio. Keinen besseren Ort für eine Abrechnung gab‘s als diesen. Was aber suchte Luigi hier?<lb/>Hart am Rand der Mauer stand er, die senkrecht vor seinen Füßen abfiel in grausige Tiefe — ein schwarzer Fleck vor der im Mondschein flimmernden Landschaft, wie er ein schwarzer Fleck in Antonios Leben war. Silbern schimmerte hinter seiner Gestalt das Meer, wie aus Licht geworden der Himmel, über leuchtenden weißen Blütenzweigen. Da kam über Antonio gewaltig sinnberaubend die furchtbare Versuchung. Wenn er sich jetzt auf den Verhaßten stürzte, hinterlistig wie er! Ein leichter Stoß in den Rücken nur — und drunten würde er liegen mit der Wunde an der Stirn, wie der Traum sie gezeigt hatte — und mit ihm zerschmettert der Eid. — Alle Sehnen seines Körpers spannten sich.<lb/>Da regte sich‘s leise vor ihm, kam geschlichen auf samtnen Sohlen, eine Mutterkatze, die ihr zartestes Junges im Maul tragend, auswanderte nach einem neuen Heim, während die kräftigeren mit ungewissen Schritten neben ihr her krochen. Flimmernd schob sich das Gewirr ihrer hellen Felle zwischen Antonio<lb/>und sein Opfer. Und die Muskeln gestrafft zum todbringenden Sprung, verharrte er, gebannt von einer frommen Scheu, das wimmelnde, ungeschickte Leben zu seinen Füßen zu zertreten. Vernichten wollte er nur den Feind. Er hatte Zeit.<lb/>In den Sekunden aber, während die Katzenfamilie langsam zwischen ihm und Luigi vorüberzog, zerflatterte die Kraft des wilden Impulses, kam Stille in seine Leidenschaft, Besinnen in seinen Wahnsinn. Wie ein kühler Hauch wehte es aus der lichterfüllten Wölbung ihm entgegen. Die Spannung seiner Glieder, seiner Seele löste sich. Nein, zum feigen Mörder konnte er nicht werden, auch um Mariettas willen nicht. Wohl zeigte die heidnische Göttin ihm den Weg, gab ihm die Gelegenheit. Aber er war ein Christ. Vor seiner Erinnerung stand das Bild der Madonna, wie sie an ihrem Ehrentag strafend sich von ihm wandte, dem Verletzer der Würde und Heiligkeit der Frau. Wie könnte er es jemals wieder wagen, die Augen aufzuschlagen zur Gottesmutter noch zu Marietta, mit dem Bewußtsein solcher Tat auf der Seele? — Da verzichtete er auf seine Liebe, auf sein Glück auf Erden.<lb/>Seine Glieder bebten von der furchtbaren Gewalt des Kampfes. Er mußte sich gegen das Gestein lehnen. Halb betäubt fühlte er über sich die Größe heiliger Gewalten, und beugte sich und gab demütig seine Schuld und sein Leid in eines Größeren Hand. Und wußte in Verwirrung und Grausen nur das eine: zum Mörder wollte er nicht werden, was ihm auch geschah — zum Mörder nicht!<lb/>Auf dem Pflaster der Straße draußen hallten jetzt Schritte. Luigi wandte sich, lief zum Eingang der Wölbung — dicht, dicht an dem reglos an der Mauer stehenden Feind lief er vorüber. Aber Antonios Hand zuckte nicht nach dem Messer. Seine Lippen riefen<lb/>den Verhaßten nicht zu einer Abrechnung auf Tod und Leben.<lb/>Draußen sprach eine Stimme. Antonio verstand die Worte nicht, nur das eine: »Morgen.« Und Luigis Antwort, die fast ein Aufschrei war: »Nein, gleich heut!«<lb/>Dann verklangen die Schritte in der Stille.<lb/>Antonio sank in die Knie und sprach ein Ave und noch ein Ave, während Erde und Himmel wie im Osterglanz um ihn lagen. Und wußte nicht, wofür er Gott pries, und fühlte doch sein Herz so schwer von Dankbarkeit, daß heiße Tränen aus seinen Augen auf die Steine niedertropften. —<lb/>Luigi raste heim durch die Nacht. Als er an den schimmernden Säulenstümpfen des Tempelvorhofs vorüberkam, hob er die geballte Faust, und seine Lippen wiederholten in lautlosem Regen den Schwur jenes Abends! »Ich fasse dich, Glück! Oder ich will verdammt sein auf Erden und im Himmel!«<lb/>Wenn er ein reicher Mann wäre, hatte Peroni gesagt. Wohl! ein reicher Mann würde er sein. Es gab etwas zu überwinden in ihm, achtundzwanzig Jahre makelloser Ehrlichkeit. Aber Ehrlichkeit hatte ihm das Glück nicht erzwungen. Und das Glück wollte er erzwingen. Nicht zum zweitenmal würde es sich ihm bieten wie heut. Zuletzt, war‘s denn solch großes Unrecht, wenn ein alter heidnischer Leuchter anstatt in der Kirche zu Palestrina in dem Winkel irgendeiner Ketzerkirche stand? Wenn es törichte Menschen gab, die ihm zehntausend Lire für das Heraustragen zahlten — warum sollte er die einem anderen überlassen?<lb/>Nur rasch mußte es geschehen, bevor der Sakristan die Kirche zur Frühmesse öffnete. Das Schloß an dem kleinen Pförtchen seitwärts in der Kirchenmauer war alt und morsch. Ein kräftiger Stoß mit dem Stemmeisen zerbrach es sicher. Vielleicht öffnete schon ein<lb/>gebogener Nagel. Dann mußte man zur Ecke links am Haupteingang gehen, den Leuchter von seinem Sockel heben — mit Vorsicht. Der alte Marmorblock war schwer. Aber man konnte ihn kippen. Und wenn er nur erst richtig auf der Schulter lag — Luigi Vanutelli war kein Schwächling. Für zehntausend Lire trug er wohl einige Minuten weit solche Last. Nur einige Minuten! An Fortunas Tempelhof vorbei, das Gäßchen hinauf und durch die Mauerbresche. Durch das Tor würde er seinen Weg nicht nehmen. Das war zu weit. Und am Tor konnten Menschen lungern. Aber das Gäßchen zur Bresche lag einsam, wie der ganze schlafende Ort, durch den auf ihren Samtsohlen nur die schweifenden Katzen würdevoll wandelten. Ein paar unregelmäßige Stufen ging‘s dann in den Mauerquadern hinauf und einige mehr hinunter. Er würde den Leuchter sich fest um die Schultern binden, damit er nicht abglitt, und zerschellend ihn um den Lohn seiner schweren Nachtarbeit brachte. Dann im Olivenschatten etwa zwanzig Schritt bis zur Mauerecke — dort warteten des Engländers Genossen mit einem Wagen.<lb/>Luigi kam heim, schlich in den Stall, nahm ein paar neue Maultierhalfter von der Wand, ohne Licht, leise, leise. In seiner Kammer warf er Jacke und Mütze ab. Die waren zuviel bei solchem Weg. Schlimm, daß er die alte Lade öffnen mußte, um das Stemmeisen, den Nagel herauszunehmen. Das Holz krachte. Ob Concetta ihn hörte? Er hielt den Atem lauschend an. Nichts regte sich, der Madonna sei Dank! Diesmal schlief die Alte, diesmal würde sie seinen Weg nicht kreuzen, nicht ihm Unglück bringen.<lb/>Und nun stand er draußen in der dunklen Gasse, schlich an den Häusern mit den geschlossenen Läden entlang. Massig ragte die Kirche — ihren Turm wie einen Finger drohend aufreckend in den flimmernden<lb/>Mondscheinhimmel. Unbequem war dieser Mondschein! Der weiße Marmor würde leuchten. Hätte er nur ein dunkles Tuch mitgenommen, ihn zu verhüllen! Doch nun war‘s zu spät, es zu holen. Die Tür gab dem ersten Druck nach. Eisig quoll die eingeschlossenen Kirchenluft ihm entgegen. Er drang ein. Das rote Lämpchen vor dem Bild der Gottesmutter schwelte matt und wob blutige Schatten in das grünliche Mondlicht, das durch die Scheiben brechend in leuchtenden Streifen auf dem Boden lag. Trotzig ging Luigi am Bild der Himmelskönigin vorüber, ohne Gruß. Warum hatte sie ihm das Glück nicht geben wollen, sie und all die Heiligen, vor denen seine unglückliche Mutter ihr armes Leben verbetet hatte? — Nun nahm er sich‘s.<lb/>In seiner Ecke stand der Leuchter. Wie er aus dem Dunkel hervorschimmerte! wie ein lebendiges Wesen. Grinsten nicht die Widderköpfe an seinem Sockel höhnisch-trotzig dem Dieb entgegen?<lb/>Luigi stellte sich mit dem Rücken gegen ihn. Die Arme hinter sich streckend suchte er ihn zu lockern, nach vorn zu biegen. Still! — regte sich da nicht etwas? — Nein, alles ruhig. Nur schnell! Sein Atem flog, ein kühles Grauen rieselte ihm über den Rücken. Es war wohl die Kälte des Steins. Jetzt rührte der sich, jetzt sank er wuchtig ihm auf die Schulter. Ob er ihn heben würde? Er straffte mit zorniger Kraft seine Muskeln. Ja, ja! Der Leuchter lag frei auf seiner Schulter, und er stand, er atmete. Nur lange — lange freilich würde er die Last nicht ertragen. Schnell die Halfter um Schulter und Leuchter geworfen, festgezogen, geknotet. So! nun waren sie unlöslich verbunden, der Leuchter und er. Die Zähne aufeinanderbeißend und seinen Atem sparend schritt Luigi durch das Kirchenschiff, durch die Sakristei, aus der kleinen Pforte. Und ein heißer Triumph war in seiner Seele. Niemand hatte ihn gesehen. Kein Mensch ver-<lb/>sperrte in dem engen, dunklen Gäßchen ihm den Weg. Und wenn das Blut ihm auch in den Ohren brauste von dem gewaltigen Druck, sein Atem röchelnd pfiff — nur wenige Schritte, wenige Schritte nur — und er faßte das Glück! —<lb/>Es hatten ihn doch zwei Augen gesehen, zwei heiße, angstvolle Augen. Concetta hatte seine Rückkehr herangewacht, war dem Fortschleichenden nachgeschlichen. Und ihr Herz drohte stillzustehen vor Schrecken, als sie ihn die Kirchenpforte heimlich öffnen sah, als sie ihn herausschreiten sah, den Marmorleuchter auf der Schulter. Aber sie erstickte den Schrei auf ihren Lippen. Nicht ihm in den Weg treten, dem eigenwilligen Sohn! Er würde sie hassen. Und sie wollte ihm kein Glück zerstören, wäre es auch durch Sünde erkauft. Nein, sie verriet ihn nicht! Durch keinen Laut, durch kein Wort brachte sie ihn in Gefahr. Als seine leisen Schritte verklangen, als der Schimmer des Marmors hinter der Windung des Gäßchens erlosch, zog sie vorsichtig die Tür zu, die Luigi hinter sich hatte offen lassen müssen, und vor dem Gnadenbild an der Kirchenwand warf sie sich auf die Knie mit gerungenen Händen.<lb/>»Vergib ihm, Mutter der Gnaden! Schmerzensreichste Mutter, hör‘ einer unglücklichen Mutter Flehen! Was er gesündigt hat, laß nicht ihn büßen, laß es mich büßen. Laß mich leiden an seiner Statt. Zürnst du mir etwa, weil ich noch immer zu Unrecht das Band deiner keuschen Töchter trage? Ich will‘s abtun von mir samt der Lüge, will die Schande auf mich nehmen. Es ist das schwerste Opfer, das ich dir bringen kann. Aber da sieh! Ich tu‘s!« Sie riß das Ordensband von ihrem Nacken. »Auf deinen Schrein leg ich‘s nieder. Erbarme dich meines Luigi! Mutter der Gnaden, erbarme dich.«<lb/>Luigi erreichte die Mauerbresche. Schon tanzten feurige Funken vor seinen Augen, und seine Lunge<lb/>fand keinen Atem mehr, wie heftig er danach rang. Wirr waren die Gedanken in seinem blutüberfüllten Hirn. Nur das eine wußte er klar: an der Wegecke dort warteten zehntausend Lire. Wer die hatte, wer die fühlte im Beutel auf seiner Brust — für den gab‘s nichts Unerreichbares auf der Welt. Nur — leicht wurden sie nicht erworben! — Er mußte stehenbleiben. Die Knie trugen ihn nicht mehr. Haltsuchend grub er die Hand in die Fugen der Mauer, denn die bröckligen Steine rutschten. Der Abstieg war schwierig. Und eine wahnsinnige Angst peitschte sein wildklopfendes Herz. Wenn jemand im letzten Augenblick ihn entdeckte! Im letzten Augenblick ihn brächte um den Preis übermenschlicher Anstrengung! — Horch! Was war das? — Ein Steinchen löste sich. Ein Schatten hob sich schwarz und langsam über den Mauerrand. — War‘s ein Menschenkopf? — Hinunter denn! Hinunter im Namen der Hölle! Nur jetzt nicht festgehalten werden! Nur jetzt nicht zurück!<lb/>Unbedachtsam ließ seine Hand ihren Halt fahren. Da polterten unter ihm die Steine. Das morsche Mauerwerk brach unter dem Gewicht des Leuchters. Sein Fuß glitt. Umsonst versuchte er im Fall sich zu halten. Die starre Last, die ihm unlöslich verbunden war, band die Gelenkigkeit seiner Glieder, zwang ihn wie einen toten Block rollend hinunter — die Mauer hinunter — den Berghang hinunter — zerbrach ihm die Rippen an den Felskanten, stieß seine Stirn auf einen Felsstein am Grund. — Dann lagen beide still, der weiße Leuchter aus Babylon und der blaß gewordene Mann mit der kleinen Wunde unter dem schwarzen Haar, aus der kein Blut mehr floß.<lb/>Auf hoher Mauerkante aber saß Chechino, sah mit seinen Sternenaugen nachdenklich auf den Feind, der ihn mißhandelte im hellen Tageslicht und in einsamer Nachtstunde vor seinem Nahen sich den Felshang hin-<lb/>unterstürzte und nun zerschmettert lag am Fuß der Mauer. Wandelte Unbegreiflicheres unter dem Mond als die Menschen? —<lb/>Vor dem Gnadenbild an der Kirchenwand betete noch immer eine vom Leben zerbrochene Frau für ihr Kind. —<lb/>Als Antonio mit dem ersten Tagesstrahl seinem Haus zuschritt, um das wenige zusammenzuraffen, das noch sein Eigentum war, und demütig und tapfer sein Leben noch einmal anzufangen an einem fernen Ort, hoben plötzlich alle Kirchenglocken von Palestrina an zu läuten, einem Toten zum letzten Gruß. Aufgeregte Männer und Weiber strömten Antonio entgegen, schrien ihm die Kunde zu von Luigi. Tot war der gefunden worden am Fuß der Stadtmauer, erschlagen von dem Leuchter aus Babylon, den er aus der Kirche geraubt hatte. Dann brachten sechs Burschen ihn selbst auf einer Bahre daher. Antonio sah ihn, wie er ihn im Traum gesehen hatte — unter schwarzer Stirnlocke die rote Todeswunde, aus der das Blut nicht mehr floß —<lb/>Er war so tief erschüttert von diesem Ausgang, daß Tage vergingen, bis das Gefühl der Freude über seine Befreiung sich durch seine Verstörtheit durchzukämpfen vermochte.<lb/>Er blieb dann in seiner Heimat. Von allen Seiten wurden ihm Darlehen geboten, um seine Tiere zurückzukaufen. Da fing er seine Fahrpost wieder an und kam empor und führte Marietta heim und ist jetzt ein geachteter, wohlhabender Bürger von Palestrina. Aber ernst und still ist er geworden. Und um keinen Preis der Welt, beteuert er, würde er noch einmal schlafen auf den zerbröckelnden Mosaiken im Tempelvorhof der Fortuna von Praeneste.<lb/>
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